Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
»Wann stellst du ihn mir vor?«, fragte Jonas schließlich betont munter.
»Morgen?«
»Einverstanden.« Sie streichelte ihm über die Wange. »Wir werden eine Lösung finden«, sagte sie leise mit all ihrer schwesterlichen Liebe im Blick. »Alle zusammen. Da bin ich sicher. Ich werde dich und die Kinder niemals im Stich lassen. Das verspreche ich dir.«
»Und ich will niemals deinem Glück im Wege stehen«, antwortete Jonas. »Das verspreche ich dir.«
Daraufhin umarmten sie sich noch einmal ganz fest –, als Ausdruck ihres gegenseitigen Versprechens.
Nachdem Torsten sich auf dem Parkplatz der Rottwälder Brauerei von Amelie verabschiedet hatte, fuhr er in seine Pension.
Seine Gemütsstimmung war genauso wie die im Tal. Die Schwarzwaldhügel versteckten sich hinter den tief hängenden Wolken. Das Licht war grau und trübe. Als er durch Ruhweiler fuhr, bekam er den Eindruck, als wäre das Dorf ausgestorben. Hinter den Scheiben der Konditorei und der anderen Läden brannte Licht. Nur wenige Autos kamen ihm entgegen, die das Wasser wie Fontänen hochspritzen ließen.
Trostlos. So trostlos, wie er sich fühlte.
Seine Verfassung verschlechterte sich noch, als er allein auf dem Bett in seinem Pensionszimmer saß.
Amelie.
Verzweifelt raufte er sich die Haare. Mit ihrem Namen brach alle Sehnsucht nach ihr in ihm auf. Er wusste, dass er von dieser Frau niemals mehr loskommen würde –, mochten Himmel und Hölle auch gegen ihre Liebe sein. Das Schlimme war: Er konnte nichts tun. Sein Glück lag in ihren Händen. So, wie sie sich entscheiden würde, so würde seine Zukunft aussehen: An der Seite der geliebten Frau – oder ohne sie. Selbst wenn er das Angebot seiner Firma ablehnen würde, brachte ihn diese Entscheidung seinem Ziel nicht näher. Dann würde er bestenfalls ein neues Projekt zur Betreuung bekommen –, einen Brückenbau in Litauen. Ungefähr genauso weit weg wie die Toskana. Ihm ging es darum, Amelie an seiner Seite zu haben. Und nach Litauen würde sie mit ihm genauso wenig gehen wie nach Italien. Sollte er etwa gar nicht mehr arbeiten und hier bei ihr bleiben? Das würde auch keine Lösung sein. Ganz abgesehen davon, dass er Geld verdienen musste. Er brauchte eine Aufgabe. Er liebte seinen Beruf.
Unstet ging er im Zimmer auf und ab, mit gesenktem Kopf, als würde er nach etwas suchen. Ja, er suchte nach einer Lösung und fand sie nicht. Schließlich hielt er es nicht länger in den engen vier Wänden aus. Er sah durchs Fenster.
Ein feiner anhaltender Nieselregen schluckte das spärliche Tageslicht und ließ die Welt noch trister erscheinen. Nebel waberte durch das Tal. Undurchdringlich wie eine Trennmauer. Wie die zwischen ihm und Amelie.
Beim Betreten der Gaststube schlug Torsten warme stickige Luft entgegen. Alle Tische waren besetzt. Nur an der Theke war noch Platz. Er stellte sich neben die Gruppe von fünf Männern, die mit bereits geröteten Gesichtern über die Politik schimpften.
Während seiner Arbeit an der Trollenschluchtbrücke hatte er oft abends hier gegessen. Manchmal war er auch mit Einheimischen ins Gespräch gekommen. Heute jedoch entdeckte er niemanden unter den Gästen, den er kannte – was ihn nicht störte. Ihm war nicht nach Plaudern zumute. Er hatte nur der Einsamkeit in dem unpersönlich eingerichteten Pensionszimmer entfliehen wollen.
Während er einen Schluck Bier trank, fragte er sich, was er überhaupt noch hier in Ruhweiler machte.
Warten, gab ihm die innere Stimme zur Antwort, mit der er sich öfter unterhielt. Vielleicht entschied sich Amelie ja doch für ihre Liebe.
Nein, sagte er sich. Er musste ihr dabei helfen. Sie befand sich in einer Konfliktsituation, in welcher er ihr Verständnis entgegenbringen musste.
Hast du ihr das nicht schon angeboten?, erinnerte ihn die Stimme. Du willst dich um Ersatz für sie kümmern. Eine Haushälterin für Jonas, eine Kinderfrau.
Amelie erfüllte im Hause ihres Vetters jedoch nicht nur Funktionen. Sie besetzte nicht nur eine Stelle, sondern liebte die Menschen dort. Auch das verstand er. Zumal Jonas gerade nicht nur seelisch, sondern auch gesundheitlich in einer schwierigen Phase war.
Trotzdem …, hielt ihm die Stimme entgegen.
Nun wurde er jäh in seinem inneren Dialog unterbrochen.
»Das glaubt ihr doch selbst nicht, dass Jonas die schöne Amelie nur als Kusine sieht«, hörte er da einen der Männer an der Theke lauthals gegen den ohnehin hohen Lärmpegel in der Gaststube anrufen.
Die markige Stimme des in Loden gekleideten Mannes ließ ihn aufhorchen. Sprach der Grauhaarige von ›seiner‹ Amelie?
»Da bin ich mir auch nicht so sicher«, stimmte ihm ein anderer zu. »Wer weiß, warum Britta Wiesler das Weite gesucht hat.«
»Welche Mutter lässt schon ihre Kinder zurück, wenn man sie nicht auf gemeinste Art aus dem Haus wirft?«, meinte einer aus der Männerrunde.
»Vetter und Kusine. Das geht doch. Das hat’s schon oft gegeben«, hörte Torsten den Mann in Loden wieder sagen.
»Wenn Jonas klug wäre, würde er sich scheiden lassen und Amelie heiraten. Dann bleibt das Hotel in Familienhand. So, wie es am besten ist.«
Amelie und Jonas ein Paar?
Dieser Gedanke stieß Torsten wie ein Dolch ins Herz.
War Amelies Liebe zu ihrem Vetter vielleicht gar nicht so geschwisterlich, wie sie ihm erzählt hatte? War diese Liebe, eine Liebe von Frau zu Mann, vielleicht sogar der Grund dafür, dass sie sich ihm nicht hatte ganz schenken wollen? Vielleicht flirtete sie nur gern. Vielleicht stellte jemand wie er, der überall nur auf der Durchreise war, für sie eine risikolose Abwechslung dar. Nach einigen Wochen arbeitete er ja wieder anderswo.
Nein. Das traute er Amelie nicht zu. So sehr konnte ihn seine Menschenkenntnis nicht getäuscht haben. Er kippte sein Bier in einem Zug hinunter.
Oder doch?, meldete sich lauernd nun wieder die Stimme in ihm.
»Zahlen.« Er gab dem Wirt hinter dem Tresen ein Zeichen.
Vor der Tür des Gasthauses atmete er paarmal tief durch. Dennoch hielt der Druck auf seiner Brust an.
Er musste etwas tun. Und zwar sofort. Warum nicht die Sache klären? Unter sechs Augen: Amelie, Jonas Wiesler und er. Jonas war nicht todkrank. Ein solches Gespräch würde er schon verkraften –, besonders dann, wenn alles so harmlos war, wie Amelie es ihm bisher geschildert hatte.
»Ich möchte Herrn Wiesler sprechen«, sagte Torsten zu der jungen Frau hinter der Rezeption.
»Herr Wiesler ist nicht im Hotel«, erwiderte diese mit freundlichem Lächeln. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Vielen Dank, nicht nötig. Ich komme ein anderes Mal wieder.«
Er wollte verhindern, dass die Hotelangestellte ihren Chef anrief. Sein Besuch sollte ein Überraschungsbesuch sein, ohne dass sich Amelie und ihr Vetter vorher eine Scheinwahrheit ausdenken konnten. Er wusste, welchen Wagen der Hotelier fuhr. Falls er sich hier auf dem Anwesen aufhalten sollte, würde er ihn schon allein finden.
Er verabschiedete sich und verließ die gleichermaßen elegant wie gemütlich eingerichtete Eingangshalle.
Traditionshotel Wiesler … Eindeutig eine bessere Partie, als einen Ingenieur zu heiraten, der noch im Aufbau seiner Existenz begriffen ist, schoss es Torsten durch den Kopf, als er zu seinem Auto zurückging. Er rasselte mit seinem Schlüsselbund, während der feine Regen sich in seine Jeansjacke setzte.
Was nun?
Er schaute sich um.
Dort hinten stand er ja, der Kombi von Jonas Wiesler. Vor einem der kleinen Schwarzwaldhäuser.
Mit langen Schritten steuerte er sein Ziel an.
Drinnen brannte bereits Licht. Kein Wunder bei dem Wetter, zumal das tief gezogene Dach und die kleinen Fenster ohnehin nicht viel Licht in diese Häuser hineinließen.