Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
über die blühenden Wiesen hinunter auf Ruhweiler. »Bist du flexibel?«, fragte er dann seine Frau.
Sie lachte. »Das solltest du besser unseren Hund fragen. Welche Idee hast du denn?«
»Ich würde gern ins Revier fahren. Mal wieder dort nach dem Rechten sehen. Hättest du Lust dazu?«
»Gern.«
»Und du?« Er tätschelte Lump den Hinterlauf, woraufhin dieser einen Freudentanz aufführte. »Lump ist auch einverstanden«, sagte er lachend zu seiner Frau.
»Ich ziehe mir nur schnell was anderes an.« Sie wollte ins Haus gehen, doch er hielt sie zurück.
»Ich finde dich in diesem engen Rock richtig sexy.«
Zuerst sah sie ihn verdutzt an, dann lächelte sie schelmisch. »Ich denke, du willst auf Pirsch gehen. Geht’s dir dabei um vierbeinige oder zweibeinige Ricken?«
»Um vierbeinige und eine einzige zweibeinige«, stellte er richtig. »Aber wenn wir zudem ein paar Wildschweine oder einen stolzen Dammhirsch beobachten können, würde ich auch nicht wegschauen.«
Wenige Minuten später stiegen die beiden in den Wagen. Ihnen voran Lump, der vor Begeisterung über den Ausflug durch den Kofferraum sprang, als würde er auf einem Trampolin hopsen. Erst der scharfe Befehl seines Herrchens, sich abzulegen, ließ ihn zur Ruhe kommen.
»Schön ist’s«, sagte Ulrike voller Inbrunst, als sie die Serpentinen zu den Schwarzwaldhöhen hinauffuhren. Sie drückte die Hand ihres Mannes, der diese zärtliche Geste erwiderte.
Das Jagdrevier des Arztes lag auf einem Hochplateau. Ganz in der Nähe vom Hotel Wiesler. Es war ein kleines Revier, aber Matthias Brunner ging es weniger ums Schießen als um die Hege und Pflege des Wildes. Er liebte die Dämmerstunden in der unberührten Natur, das Büchsenlicht, wie die Jäger diese Zeit nannten, wenn das Wild zum Äsen aus seinen Verstecken trat. Und wenn er dabei dann auch noch seine Ulrike an der Seite hatte, konnte er sich von dem hinter ihm liegenden Arbeitstag noch besser erholen.
»Schau mal, das ist doch Amelie!«, rief Ulrike erstaunt aus, als ihnen ein kleines blaues Auto entgegenkam.
Die Fahrerin winkte, und Matthias hupte, als sie aneinander vorbeifuhren.
»Sie besucht bestimmt ihren Freund«, vermutete die Arztfrau.
»Schwester Gertrud erzählte mir, dass er hier noch Urlaub macht.« Sie lächelte ihren Mann von der Seite an. »Vielleicht wird aus den beiden doch was.«
»Das würde ich Amelie von ganzem Herzen wünschen«, erwiderte Matthias ernst.
»Aber?« Ulrike warf ihm einen forschenden Seitenblick zu. Sie hatte den besonderen Unterton in der Stimme ihres Mannes gehört.
»Kein aber. Ich wünsche es ihr.«
»Du klingst so …«
Nun erzählte er ihr von dem Gespräch, das er mit Amelie am Vormittag in seiner Praxis geführt hatte.
»Die Arme.« Ulrike seufzte, um dann aber gleich darauf voller Empörung fortzufahren: »Das ist typisch für manche Männer. In jeder Stadt eine andere.«
»Das ist ein Vorurteil«, meinte Matthias trocken.
Sie waren inzwischen an der Stelle angekommen, wo sie immer parkten.
»Ich habe gesagt, ´für manche Männer«, rechtfertigte sich seine Frau.
»Ich glaube nicht, dass Herr Richter zu diesen Männern gehört. Und Amelie scheint es auch tief im Herzen nicht zu glauben.«
Verwirrt sah Ulrike ihn an.
»Ich vermute, dass sie gerade auf dem Weg ist, dies herauszufinden.«
Torsten fuhr so schnell, wie es der Verkehr erlaubte. Aber das war nicht so schnell, wie er sich gewünscht hätte. Erst hinter Baden-Baden konnte er mehr Gas geben. Bei Freiburg verließ er die Autobahn.
Vor ihm ragten die bewaldeten Höhen des Schwarzwaldes in majestätischer Pracht gegen den lichten Abendhimmel auf, im Tal breiteten sich blühende Wiesen aus. Die tief stehende Sonne verbreitete eine angenehme Wärme. Eine liebliche anmutige Landschaft.
Ja, hier würde er sich gern niederlassen, eine Familie gründen, sein eigenes Ingenieurbüro. An diesen Traum war jedoch noch ein anderer gebunden: Ein Leben mit Amelie. Sie war die Frau, mit der er sich eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte.
Die Straße wand sich höher. Bald schluckte ihn der Wald, ein hoher kühler Tannenwald. Silberne Lichtbahnen flossen durch die Wipfel in die dämmernde Dunkelheit. Jetzt hatte er fast sein Ziel erreicht. Oberhalb der Fichten lag das Hotel Wiesler. Als er das Waldstück verließ, sah er einen kleinen blauen Wagen auf sich zukommen. Er erkannte ihn auf den ersten Blick.
Amelie.
Er blinzelte.
Täuschte er sich vielleicht? Nein, jetzt konnte er das Nummernschild lesen. Amelie blinkte auf. Sie musste ihn auch erkannt haben. Sie gab ihm ein Zeichen.
Einen hämmernden Herzschlag lang fragte er sich, ob er dies nicht alles nur träumte. Eine solche Situation sah man in Liebesfilmen oder man las von ihnen in Romanen. Aber passte sie ins wirkliche Leben? Machte das Schicksal es den Menschen so einfach?
Natürlich bremste er, lenkte seinen Wagen an den Straßenrand, so, wie es Amelie tat. Er schaltete den Motor aus, öffnete die Tür, wie auch sie. Sie stiegen aus und standen sich gegenüber. Nur die schmale Landstraße trennte sie noch.
Amelie schien es, als würde die Welt plötzlich anhalten, als würde sie sich außerhalb der Zeit befinden. Narrte sie nur ein Traum?
Torsten kam auf sie zu, blieb vor ihr stehen, sah sie an, als wäre sie nicht aus Fleisch und Blut.
»Du?«, fragte sie leise und zögernd. »Was machst du hier?«
»Mit dir reden.« In seiner Stimme schwang eine tiefe Rührung mit.
»Ich wollte zu dir«, sagte sie heiser.
»Zu mir? Nach Frankfurt?« Seine Augen wurden größer.
Sie nickte. »Du warst einfach weg.« Sie klang hilflos, ohne jeden Vorwurf.
Er räusperte sich. »Die Leute. Sie redeten über dich und Jonas. Und dann habe ich euch im Haus gesehen. Ihr habt euch umarmt.«
Sie sah zu ihm hoch. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume.
Wann mochte das gewesen sein? An dem Abend, an dem Torsten sein Handy ausgeschaltet hatte?
»Du hast gedacht, dass Jonas und ich …?« Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Zu unfassbar war Torstens Vermutung – und das Gerede der Leute.
Torsten schloss sie in die Arme und drückte sie fest an sich.
»Bist du es wirklich?«, flüsterte er nah an ihrem Ohr. »Hier und jetzt auf dieser Straße, während ich auf dem Weg zu dir war?« Er nahm sie bei den Schultern, hielt sie von sich weg und schaute sie an wie eine Erscheinung, ein Wunder. Wie etwas, das nicht von dieser Welt sein konnte. Dann glomm in seinem Blick all das Glück auf, das sie zusammen erlebt hatten, und in ihrem Herzen breitete sich ein helles Licht aus, das durch ihren gesamten Körper floss und sie mit Seligkeit erfüllte. Ja, er liebte sie, so, wie sie ihn.
»Amelie, ich kann nicht ohne dich leben«, sagte er in beschwörendem Ton. »Ich weiß auch, dass du hier nicht alles von heute auf morgen verlassen kannst, aber ich bitte dich, bleibe bei mir. Gib uns die Chance auf eine gemeinsame Zukunft.«
Da schlang sie die Arme um ihn, schmiegte sich an ihn und sagte:
»Glaubst du, ich wäre zu dir nach Frankfurt gefahren, wenn ich nicht das Gleiche wollte?«
Sie brauchten keine Worte mehr. Ihre Blicke, ihre Hände und ihre Lippen sagten alles. Sie hatten einander gesucht und sich gefunden – und wussten, dass sie sich nie mehr verlieren würden.
Über der Schwarzwaldpraxis stand der Mond. Bleichgolden