Der Landdoktor Staffel 1 – Arztroman. Christine von Bergen
in die Wohnstube erhaschen. Was er dort sah, ließ ihn den Schritt verhalten: Amelie und ein mittelblonder Mann in inniger Umarmung. Jetzt sahen sie sich in die Augen, streichelten sich gegenseitig übers Haar, fielen sich wieder in die Arme, hielten einander fest.
Er blinzelte, trat näher ans Fenster und glaubte sich in einem bösen Traum. Ihm war, als hätte er einen Keulenschlag erhalten. Das Blut schoss ihm in den Kopf, der im nächsten Augenblick zu zerspringen drohte.
Viel zu nachhaltig hatten die Worte der Männer aus der Gaststube auf Torsten gewirkt, als dass er in dieser Situation die nötige Distanz hätte behalten können. Nun sah er den Grund für Amelies zögerndes Verhalten vor sich.
Sie liebte in Wirklichkeit ihren Vetter, liebte ihn wahrscheinlich schon seit Jahren. Jetzt, da Britta Wiesler das Feld geräumt hatte, war für sie der Weg zu Jonas frei. Deshalb folgte sie ihm – Torsten – auch nicht in die Toskana.
Nur weg von hier, sagte er sich, drehte sich um und lief zum Parkplatz zurück.
Eine Stunde später verließ der Brückenbauingenieur Ruhweiler, ohne Amelie eine Nachricht zukommen zu lassen.
Am nächsten Morgen war die Welt wie frisch gewaschen. Ein wolkenloser Himmel spannte sich über Ruhweiler, es herrschte eine herrliche Fernsicht. Stumm und feierlich stand der Wald über dem Ort und warf seinen kurzen Schatten die grünen Hänge hinunter.
Am Abend hatte Amelie zigmal Torstens Handynummer gewählt. Sein Telefon war ausgeschaltet gewesen. Auch früh am Morgen hatte sie versucht, ihn zu erreichen. Sie musste ihm doch unbedingt von dem Gespräch mit Jonas erzählen. Davon, dass ihr Vetter Verständnis für ihre Liebe hatte und bereit war, eine für alle lebbare Lösung in dieser verzwickten Situation zu finden. Im Stillen hatte sie schon beschlossen, in einem Monat mit den Zwillingen zusammen Torsten in die Toskana zu folgen. Ohne die Kinder würde Jonas allein erst einmal besser zurechtkommen.
Nachdem sie den geliebten Mann bis mittags nicht erreicht hatte, bat sie Anna, bei Kim und Tim zu bleiben und fuhr zu der Pension –, wo sie dann von der Wirtin erfuhr, dass Torsten bereits am Abend nach Hause gefahren war.
Als Amelie wieder in ihrem Auto saß, wunderte sie sich über sich selbst.
Nichts passierte. Sie rang nicht nach Atem oder schrie auf. Es traten ihr auch keine Tränen in die Augen. Sie fühlte sich, als wäre sie gerade gegen eine Wand gelaufen. Betäubt, gefühllos gegen den überwältigenden Schmerz, der bereits tief in ihr lauerte, aber noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen war.
Torsten war weg. Ohne ihr Bescheid zu sagen. Das war eindeutig.
Sie legte die Hände aufs Lenkrad. Ihre Finger umschlossen es so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Wir sind Seelenverwandte«, hatte sie gestern noch zu Jonas gesagt. Nein, das waren sie niemals gewesen, sonst hätte Torsten sie nicht verlassen können. Vielmehr hätte er ihre Gründe verstanden, hätte ihr mehr Zeit gegeben.
Sie fuhr los, wie ferngesteuert. Auf dem Nachhauseweg durchbrachen dann ganz langsam ihre Gefühle den Panzer, den der Schock um sie gelegt hatte. In der Nähe der Steinache hielt sie an, ging zum Fluss hinunter und kauerte sich auf das abschüssige Ufer. Um sie herum raschelten die langen schmalen Blätter der Weide. Die Zweige tanzten über dem gurgelnden Wasser zu ihren Füßen. Hier und da ließen sie den Sonnenschein durch. Schmetterlinge gaukelten durch die warme Luft.
Amelie schloss die Augen, ohne diese mittägliche Idylle wahrzunehmen. Sie hörte nur das laute Zirpen der Grillen, die sie auslachten.
Zu Recht. Wie hatte sie sich in einen Mann verlieben können, der beruflich bedingt durch die Welt gondelte? Das, was ihr zuerst so reizvoll erschienen war, hatte sich schon bald als Stolperstein ihrer Liebe herausgestellt. Entweder mit ihr oder ohne sie –, so hatte Torstens Devise gelautet. Das hatte er ihr durch seine Abreise deutlich gemacht.
Blicklos starrte sie auf das Wasser, das unabhängig von jeder Zeit oder jeglichem Schicksal in seinem Rhythmus weiterfloss. Wie sehr wünschte sie sich in diesem Moment, es würde die Erlebnisse ihrer jüngsten Vergangenheit mitnehmen. Den Schmerz, der sich in ihr zu rühren begann, die Verletzung, die Demütigung, die Enttäuschung, aber auch die Erinnerungen an die Liebesstunden, die Torsten ihr geschenkt hatte und die sie niemals vergessen würde.
Sie beugte sich nach vorn, umklammerte mit beiden Armen ihre Knie und begann zu weinen.
»Das sieht ja schon gut aus«, sagte Dr. Brunner in aufmunterndem Ton zu Kim und Tim, die wie zwei Zinnsoldaten nebeneinander auf der Behandlungsliege saßen. »Noch ein paar Tage, dann werden auch die roten Flecken verschwinden.«
»Wann dürfen wir wieder in den Kindergarten?«, fragte Kim.
»Da müsst ihr noch ein bisschen warten, sonst steckt ihr die anderen Kinder an.«
»Die sind alle geimpft«, antwortete der pfiffige Kleine.
Seine wachen Ohren hatten das Gespräch zwischen seinem Vater und Amelie natürlich wahrgenommen.
»Nur meine Mutter hat’s vergessen«, fügte er hinzu.
»Es gibt auch Kinder, bei denen die Impfung nicht anschlägt und sie stecken sich dann trotzdem an«, erklärte ihm Matthias.
»Sind wir solche Kinder?« Kim sah ihn neugierig an.
Der Gedanke, etwas Besonderes zu sein, schien ihm zu gefallen.
»In ungefähr einer Woche können die beiden doch bestimmt wieder in den Kindergarten gehen, oder?«, fragte Amelie, um diesem Thema ein Ende zu setzen.
Matthias nickte. »Ihr könnt euch die Sweatshirts jetzt wieder überziehen«, sagte er zu den beiden.
Kim rutschte von der Liege, Tim tat es ihm nach.
»Herr Doktor?« Amelie sah den Landarzt an. In ihrem Blick lag ein Ausdruck, der diesem alarmierend vorkam.
Sie hatte etwas auf dem Herzen. Das spürte er. Blass sah sie aus. Wie ihm schien, hatte sie sogar im Gesicht etwas abgenommen. Ob sie etwa auch krank war?
Er drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
»Schwester Gertrud? Die beiden jungen Männer hier wollen so gern einmal das Skelett sehen, das im Abstellraum steht. Haben Sie Zeit, es ihnen zu zeigen?«
»Ein Skelett?«, fragte Kim mit großen Augen. »So wie in Horrorfilmen?«
»Iiiiihh!«, rief Tim aus.
»Du musst ja nicht mitgehen«, meinte sein Bruder lässig.
Da straffte sich Tim, der ein paar Zentimeter kleiner war.
»Will ich aber. Ich bin doch kein Feigling.«
In diesem Moment öffnete sich die Sprechzimmertür und Schwester Gertrud kam herein.
»Wo sind die beiden jungen Männer, die mit mir in die Gruselkammer wollen?«, fragte sie forsch.
»Hier.« Kim trat auf sie zu. Tim folgte ihm.
Sie streckte beide Hände aus. »Dann kommt mal mit. Aber geschrien wird nicht. Im Wartezimmer sitzen noch Leute.«
Nachdem sich die Tür hinter den dreien geschlossen hatte, sah Amelie den Landarzt dankbar an.
»Setz dich«, sagte dieser mit einladender Geste.
Sie zögerte noch. »Die Leute im Wartezimmer …«
»So viel Zeit muss sein. Ich sehe dir doch an, dass du was hast.«
Da schüttete sie ihm ihr Herz aus, erzählte ihm von ihrem Liebeskummer und der Enttäuschung, die sie durch Torsten erfahren hatte.
Matthias hörte ihr zu, ließ sie reden. Es war nicht das erste Mal in seiner jahrelangen Tätigkeit, dass er für seine Patienten auch der Kummerkasten war. Ihnen im Gespräch zu helfen, so weit er konnte, lag ihm genauso am Herzen, wie sie von ihren körperlichen Leiden zu heilen. Denn er wusste, dass eine verletzte Seele einen gesunden Körper krank machen konnte.
»Ein