Motte und Co Band 3: Blutspur. Ulrich Renz
Orientierungslauf war seine Idee gewesen. „Kinderchen, der olle Zilinski hat sich was ganz Feines für euch überlegt“, hatte er nach dem Frühstück mit seiner Donnerstimme verkündet. „Ihr dürft euch heute mal so richtig austoben und mal richtig schön durch den Wald rennen, immer der Schnauze nach ...“ Dabei grinste er wie immer so breit, dass das ganze Gesicht nur noch aus Zähnen zu bestehen schien. Er war früher einmal irgend so ein Meister im Crosslauf gewesen, und rannte jetzt mit Fünfzig noch jeden Tag vor Schulbeginn seine zehn Kilometer mit seinem Pudelmischling Chico durch den Stadtpark.
„Wer läuft, kann besser denken. Wer viel läuft, wird früher oder später zum Genie. Also Kinderchen, auf der Wiese vor dem Schlossgarten geht es los und dann ab durch den Wald den Berg hoch bis zum Aussichtspunkt oben, zwanzig Minuten hin, zehn zurück – wenn ihr es locker laufen lasst. Oben steht eine Tüte Bonbons, da nimmt sich jeder eins raus, aber bloß nicht gleich in den Mund damit! Das Bonbon ist nämlich der Beweis, dass ihr auch wirklich da oben wart. Die ersten fünf, die mit ihren Bonbons wieder unten sind, kriegen Küchendienst-frei.“ Er rieb sich die Hände und schaute mit seinem Zilinski-Grinsen erwartungsvoll in die Runde. Richtiger Jubel wollte nicht aufkommen, aber natürlich widersprach keiner, es war ja eh klar, dass Zilinski nicht locker lassen würde. So einen Querfeldein-Lauf machte er auf jeder Klassenfahrt. Nur Blondi musste die Botschaft loswerden, dass sie mit ihren neuen Subishi-Turnschuhen unmöglich durch den Schmodder rennen könne. Zilinski hatte mal wieder Gelegenheit, seinen Lieblingsspruch anzubringen: „Das Leben ist kein Ponyhof“. Und dabei zu strahlen wie ein Honigkuchenpferd.
Auf der Straße draußen war ein Auto zu hören. Einen Augenblick war es Motte, als ob es an der Abzweigung zum Schloss abbremsen würde. Brachte es vielleicht Tobi zurück? Aber schon bald hatte sich das Motorengeräusch in der Ferne verloren.
Ausgerechnet der kleine Tobi. Wenn es wenigstens Dimitri erwischt hätte, der würde sich schon irgendwie durchschlagen, mit seinen Eins achtzig und der Bodybuilder-Figur. Oder Lasse, dem hätte er eine Nacht im Freien gegönnt, und seiner großen Klappe hätte es auch ganz gut getan. Aber Tobi, der als einziger von den Jungs noch durch das Fenster zum Heizungskeller in der Schule passte, wenn in der Pause wieder einmal der Tischtennisball verschwunden war. Alles an ihm war zart, und wenn er seine blonden Locken noch etwas länger hätte wachsen lassen, hätte man ihn gut und gern für ein Mädchen halten können. Alle in der Klasse mochten ihn, wenn er manchmal auch ein bisschen in seiner eigenen Welt lebte und man nie sicher sein konnte, ob er etwas wirklich ernst meinte oder ob er nur den Kasper machte.
Vor allem mit seiner stürmischen Leidenschaft für Renate sorgte er für viel Heiterkeit und Sticheleien, die er mit einem vielsagenden Lächeln ertrug. Motte war sich jedoch sicher, dass mehr dahinter steckte als Theater. Er saß in der Klasse direkt hinter Tobi, und wie oft hatte er schon mitbekommen, dass Tobi seinen Blick gar nicht mehr von Renate lassen konnte! Ausgerechnet Renate, die zwei Köpfe größer war als er, wie die leibhaftige Sexbombe rumlief (was ihr in der Klasse den Spitznamen „Granate“ eingebracht hatte) und auf die coolen Skatertypen aus der Neunten abfuhr. Das einzige, was einigermaßen passte, war die Haarfarbe. Vor ein paar Wochen war Tobi mit einem T-Shirt aufgetaucht, auf dem ein kleines Herzchen mit Renate in der Mitte aufgedruckt war. Renate hatte ihm aber offenbar schnell klar gemacht, dass sie seine Liebe nicht erwiderte, denn am nächsten Tag stand auf Tobis T-Shirt Renate, ich kann warten.
Motte schaute auf die Uhr an der Wand: fünf vor acht. Immer noch war es mucksmäuschenstill im Saal. Nur hinten am Tisch des Russenzimmers wurde getuschelt.
Mottes Blick wanderte zu seinen Freunden neben ihm: MM hatte ihren Kopf in die Hände gestützt, ihr Gesicht war ganz hinter ihrem glänzenden schwarzen Haar verschwunden. Simon starrte irgendwo auf den Boden, als ob sich da irgendetwas unschlagbar Wichtiges abspielen würde. Von Zeit zu Zeit schüttelte er sich mit einer kleinen Kopfbewegung die blonde Mähne aus dem Gesicht. JoJo hatte ein Bein über das andere geschlagen und sich zurückgelehnt, er wollte wahrscheinlich betont locker erscheinen, aber Motte sah an seinen Augen, dass ihm Tobis Verschwinden genau so nahe ging wie allen anderen. Motte hatte sich immer noch nicht an JoJos Krawatte gewöhnt, von dem strammen Seitenscheitel ganz zu schweigen. Das erste Mal war er so nach den Osterferien aufgetaucht: weißes Hemd, feine Stoffhose, schwarze Krawatte. Und dazu ein dunkelblaues Jackett mit Goldwappen drauf. Zusammen mit seiner Schlaumeier-Brille sah er aus wie ein Musterknabe auf einem englischen Internat. Nur sein Übergewicht passte nicht so recht ins Bild.
Die anderen in der Klasse hielten seinen Stil für die neueste Variante der Mod-Bewegung, aber wer JoJo kannte, wusste, dass er nie irgendeinen Stil kopieren würde, den es schon gab. „Dem Trend immer einen Schritt voraus“, dieses Motto nahm er ziemlich ernst.
Auch diesmal machte JoJo wieder ein Staatsgeheimnis daraus, wie er auf seinen neuen Stil gekommen war. Motte gegenüber hatte er immerhin ein paar Andeutungen gemacht, demnach hatte es auch diesmal mit einem Film zu tun. JoJo hatte in den Osterferien seinen Vater in Hamburg besucht, zum allerersten Mal, seit der vor vielen Jahren zuhause ausgezogen war. Und mit ihm hatte er einen Film gesehen, Motte konnte sich an den Namen nicht mehr genau erinnern, aber die Geschichte spielte wohl in einem feinen englischen Jungs-Internat, in dem ein paar Schüler einen geheimen Bund gründeten, sich nachts in einer verbotenen Höhle trafen und sich gegenseitig selbst geschriebene Gedichte vortrugen. Am Ende flog der Dichterclub auf und alles nahm ein schlimmes Ende – viel mehr war Motte nicht mehr im Gedächtnis.
So viel war jedenfalls klar: Der Film hatte gewirkt. Und wie.
JoJo war fest entschlossen, selber einmal einen solchen Club zu gründen, „wo man sich nachts irgendwo trifft und selbst gemachte Poesie vorträgt“ – „Poesie“ war jetzt sein Lieblingswort. Als Motte ihn gefragt hatte, ob er schon ein Gedicht selber geschrieben hätte, schüttelte JoJo den Kopf. Er fühle sich „innerlich noch nicht bereit“, erst einmal müsse er „den Dichter in sich entdecken“. Für die Klassenfahrt hatte er sich mit einem ganzen Koffer voller Gedichtbände eingedeckt, die er wer weiß woher aufgetrieben hatte. Und selbstverständlich hatte er auch sein Lieblingsbuch dabei, das er schon halb auswendig kannte. „Hymnen an die Nacht“ von einem Dichter namens Novalis. JoJo hatte Motte mal ganz geheimnisvoll reinschauen lassen, aber er war nicht über die ersten fünf Zeilen hinausgekommen, er hatte das Gefühl, der Text sei in irgendeiner ihm unbekannten Fremdsprache verfasst. „Bei Poesie geht es nicht ums Verstehen“, belehrte ihn JoJo, „sondern ums Gefühl. Und das muss man auf sich wirken lassen. Man muss nur offen dafür sein.“
Er hatte offenbar schon eine ganze Menge an poetischem Gefühl auf sich wirken lassen. Er verfügte inzwischen über einen reichhaltigen Schatz an Versen, die er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit anbrachte. („Es kommt Wind auf. Wir müssen versuchen zu leben“, hatte er heute beim Start zum Orientierungslauf gesagt, als Zilinski ihnen noch die letzten Anweisungen gegeben hatte. Wie wichtig es sei, ein gleichmäßiges Tempo zu laufen und nie – „verstanden, Kinderchen, NIE!“ – stehenzubleiben. Er hatte dabei JoJo fest ins Auge genommen, der noch nie einen Lauf ohne längere Pause durchgehalten hatte).
An den Tischen hatte jetzt ein Flüstern und Tuscheln begonnen. Alle blickten zur Uhr. Eine Minute vor acht. Frau Morahwe-Krieger erhob sich wie in Zeitlupe. Ganz langsam, als ob sie noch ein bisschen Zeit schinden wollte, ging sie Richtung Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zur Uhr um. Ganz leise machte der Zeiger Klick.
2. KAPITEL
„Hiermit erkläre ich ...“
Ein Kind kann doch nicht einfach so verschwinden, ging es MM immer wieder durch den Kopf.
Motte, der neben ihr auf dem Bett in der unteren Stockbett-Etage saß, war offenbar mit denselben Gedanken beschäftigt. „Er kann doch nicht einfach weg sein ...“, murmelte er leise vor sich hin. Er hatte die Beine fest mit den Armen umschlungen und seinen zerzausten Strubbelkopf auf die Knie gelegt.
Von den anderen war kein Ton zu hören. Simon in der Etage über ihnen ließ sein Bein am Bettrand hin und her schlenkern. JoJo lag lang ausgestreckt in der unteren Etage des gegenüberliegenden Stockbetts – die eigentlich Abel gehörte.