Motte und Co Band 3: Blutspur. Ulrich Renz
lustig und brummelte „Du hast ja keine Ahnung, was bei der Verdauung alles schief gehen kann“). – Abel hatte es einfach mit der Verdauung. Den Tick hatte er mit Sicherheit von seiner Mutter. Sie hatte sich nicht entblödet, vor der Abfahrt noch in den Bus zu kommen, um auf ihren Sohn einzureden – „Spazierengehen nach jedem Essen, hörst du, nach jedem? Du weißt, wie wichtig das für deine Verdauung ist. Und dass du mir jeden Morgen dein Joghurt isst ...“ Jeder andere wäre im Boden versunken vor Peinlichkeit, aber Abel lächelte es weg. Er hatte tatsächlich ein Riesenglas selbstgemachten Joghurt bei sich, das er im Kühlschrank in der Küche deponiert hatte und von dem er jeden Morgen zum Frühstück zwei Löffel nahm, oder auch drei, wenn seine Verdauung danach verlangte – zusammen mit einer ordentlichen Portion Haferflocken, von denen er drei Packungen im Koffer hatte.
Abel war der verschrobenste Mensch, der ihr je begegnet war, so viel war jedenfalls klar. Aber er war kein Fiesling, im Gegenteil. MM hatte einmal mitgekriegt, wie er einen Jungen aus der Fünften angesprochen hatte, der nach der Schule heulend neben seinem Fahrrad stand. Irgendein Scherzbold hatte es mit einem Zahlenschloss an das Geländer vor der Turnhalle gekettet. Während die „Freunde“ des Jungen längst ohne ihn nach Hause gefahren waren, probierte Abel eine geschlagene Stunde alle Zahlenkombinationen durch, bis er das Schloss auf hatte.
Die Jungs sollten sich mal nicht so anstellen. Sie hätten es wirklich schlimmer treffen können.
Wie sie selbst zum Beispiel. Ausgerechnet bei den drei Obertussen war sie gelandet, Blondi, Mara und Nele. Außer Klamotten und „Styling“ hatten sie buchstäblich nichts im Kopf. Sie redeten ständig davon, wie bescheuert die anderen allesamt aussahen, MM natürlich inklusive. „Absurd“ war das Lieblingswort von Blondi, wenn es um das Aussehen der anderen ging. „Absurd“ war alles, was nicht „geil“ war, und „geil“ war das, was sie gerade anhatte. Zurzeit war alles geil, wo Yamamoto oder Kawazaki draufstand oder sonst irgendwas Japanisches. „Japan ist so geil“, verkündete Blondi immer wieder. Sie war die unangefochtene Anführerin der Tussen. Sie hieß eigentlich Jennifer, aber seit sie ihre von Natur aus eher undefinierbaren Haare wasserstoffblond färbte, ließ sie sich von ihren Anhängerinnen Blondi nennen. So hieß die Cheerleaderin in der Teenie-Serie, die sie nachmittags immer anschauten. Die drei hatten zwei Kubikmeter Modezeitschriften mitgebracht, über denen sie in jeder freien Minute hingen, um darüber zu richten, was „geil“ aussah und was „absurd“. Zum Glück konnte sich MM meistens zu ihren Freunden ins Poetenzimmer abseilen. Es gab einfach nichts, was sie weniger interessierte als Klamotten.
Abel stand noch immer in der Tür und schaute hilflos lächelnd auf JoJo in seinem Bett, sagte aber nichts, sondern blieb stehen, wo er war.
Erst jetzt erkannte sie das dicke Buch, das er unter dem Arm hatte.
„Verdammt ... das Logbuch!“ Motte hatte es offenbar auch entdeckt.
„Shit!“, kam es von Simon oben.
„Der Abend ist gelaufen“, grummelte JoJo.
Das Logbuch sollte so etwas wie die Chronik der Klassenfahrt werden. Jeden Tag war ein anderes Zimmer dran, die Liste hing im Speisesaal am Schwarzen Brett. Die Idee dahinter war, aus dem Logbuch dann im Deutschunterricht einen richtigen Roman zu machen. Wie das funktionieren sollte, wusste wahrscheinlich nur Siegwart, von dem der Plan stammte. „Vier Seiten Minimum ... und zwar schön eng beschrieben“, hatte er ihnen vor der Abfahrt eingeschärft. Und heute Morgen beim Frühstück hatte Mo-Kri sie noch einmal erinnert – „Auf den heutigen Beitrag des Poetenzimmers bin ich natürlich ganz besonders gespannt“, sagte sie mit einem Seitenblick zu JoJo.
„Also Jungs, an die Arbeit!“, sagte JoJo und saß mit einem Ruck auf der Bettkante. Wenn er nicht so klein gewesen wäre, hätte er sich den Kopf am oberen Bett angeschlagen. „Wer schreibt?“
Schweigen im Walde.
„Wenn ihr denkt, dass ich das für euch mache, habt ihr euch übrigens gebrannt“, sagte MM vorsorglich. Ihr Zimmer war übermorgen dran und bei diesen analphabetischen Modepuppen war jetzt schon klar, dass die Arbeit an ihr hängenbleiben würde. „Außerdem muss ich in einer halben Stunde sowieso verschwinden“ – sie schaute auf die Uhr –, „in 28 Minuten, um genau zu sein.“
Nach allem, was in der ersten Nacht passiert war, nahmen es die Lehrer jetzt ganz genau: Punkt 22 Uhr mussten alle in ihrem Zimmer sein. „Ausnahmslos“, so stand es in der „Disziplinarvereinbarung“, die sie alle eigenhändig unterschreiben mussten. Und um elf musste das Licht aus sein – auch das „ausnahmslos“.
„Motte, du hast die beste Schrift“, bettelte JoJo. Wenn es nach der Schrift ging, war JoJo mit seiner Sauklaue jedenfalls aus dem Schneider.
„O.K.“ Motte gab einen resignierten Seufzer von sich, „aber ihr sagt mir, was ich schreiben soll.“ Abel kam lächelnd mit dem Buch und legte es Motte auf den Schoß.
Motte schlug die erste leere Seite auf. „Also, dann schießt mal los ...“
MM hatte es schon erwartet. Keiner sagte etwas.
Aber was war über den Tag auch schon zu sagen?, ging es ihr durch den Kopf. Tobi war weg, alles andere war eigentlich völlig belanglos. Am besten wäre es, so lange „Tobi verschwunden“ zu schreiben, bis die vier Seiten voll waren.
Gut, am Vormittag hatten sie diesen Ausflug ins Marienburger Heimatmuseum gemacht. Auf der Hinfahrt hatte der Bus eine Panne gehabt, sie hatten deshalb gerade noch eine halbe Stunde Zeit für die Besichtigung gehabt. Eine Viertelstunde hätte aber auch gereicht – außer ein paar Kupferstichen und ein paar Münzen war da nichts zu sehen.
„Jetzt sag schon, was ich schreiben soll ...“ Motte schaute sie fast flehend an. Sie lächelte freundlich zurück und zuckte mit den Schultern.
Mit einem Seufzer blätterte Motte die Seiten des Logbuchs zurück. Er war anscheinend auf der Suche nach Ideen.
„Schau dir das mal an!“ Motte war ganz vorne auf der ersten Seite angekommen. „Erster Tag“ stand da, in Pinki-Susis Schnörkelschrift. Die ganze Seite war mit Buntstiften ausgemalt, überall waren Blümchen (in Pink), Herzchen (genauso) und am Rand eine lächelnde Sonne (ausnahmsweise gelb). Es sah aus wie das Poesie-Album einer Zweitklässlerin. Und hörte sich auch genauso so an:
„Um 14.06 Uhr kommt unser schöner Reisebus im schönen Schloss Wulfshausen an. Voller Vorfreude betrachten wir das schöne und ehrwürdige Gebäude, in dem wir unsere schöne Schulfreizeit zusammen verbringen werden. Schloss Wulfshausen wurde 1642 von den Grafen von und zu Breitenbuch erbaut ...“
Die nächsten zwei Seiten hatten sie offenbar aus dem Reiseführer abgeschrieben. Pinki-Susi und ihre Pinki-Freundinnen mussten es mal wieder 150-prozentig machen, ganz wie in der Schule. Ihre Hausaufgaben waren immer druckreif. Auf Extra-Punkte für Schönschrift waren sie fest abonniert. Jeden Morgen trafen sie sich schon eine halbe Stunde vor dem Unterricht, um gemeinsam „den Schultag vorzubereiten“ – also ihre Stifte zu spitzen, Füller zu füllen, Radiergummis sauber zu rubbeln, Bücher zu sortieren. Seit der Fünften machten sie freiwillig den Tafeldienst und leerten jeden Tag den Papierkorb.
„Herrn Rudolph, unserem netten Busfahrer, gebührt Dank, dass er uns so schön und sicher hierhergebracht hat.“
Netter Busfahrer ... na ja ... Walter (wie er sich von den Kindern unbedingt nennen lassen wollte) war zwar wirklich ganz nett, nur übertrieb er es leider ein bisschen mit seinen Witzchen, über die außer ihm keiner lachen konnte.
„Nett ... wunderschön ...“, murmelte Motte und schüttelte den Kopf.
„Jetzt lies schon vor“, drängelte JoJo.
„Gleich nach der Ankunft“, las Motte, „heißt uns die nette Heimleiterin, Frau Gräfin von Wulfshausen, im wunderschönen Rittersaal des Schlosses herzlich willkommen.“
Eigentlich wusste keiner, ob es sich bei der Heimleiterin wirklich um eine Gräfin handelte, und erst recht nicht, ob sie wirklich die Nachfahrin der ehemaligen Schlossbesitzer war. Aber sie hatten