ALTE GEWOHNHEITEN STERBEN LANGSAM. Ben Trebilcook
Draußen, vor der Volksbühne, riss der fünfjährige Junge, der noch immer die Hand seines Großvaters hielt, besorgt die Augen auf.
Das Quietschen von Autoreifen war zu hören. Ein unglaublich durchdringendes Geräusch, das über das Kopfsteinpflaster der Straße hinweg hallte.
Der Junge erstarrte vor Angst.
Mehrere maskierte Männer tauchten aus der drohenden Schwärze eines Fahrzeugs auf, packten den elegant gekleideten Europäer ohne jede Vorwarnung und zerrten ihn zu dem wartenden Mercedes-Lieferwagen.
»Opa!«, schrie der Junge. »Opa!«
Sie zogen seinem Großvater einen schwarzen Sack über Kopf. Sein Körper wand sich unter ihren Händen, er ächzte und stöhnte. Dann ballte er eine seiner Hände zur Faust und verpasste einem der maskierten Männer einen kraftvollen Hieb gegen die Kehle. Doch wenig später wurde er von ihnen überwältigt. Die Absätze und die Kappen seiner teuer wirkenden Schuhe kratzten über das Straßenpflaster, während er sich zu wehren versuchte, bekamen Schrammen, verloren ihren makellosen Glanz. Der Europäer bäumte sich ein letztes Mal auf, dann wurde er mit Gewalt in die Dunkelheit gerissen, die die Männer eben noch ausgespuckt hatte.
In ihrer unterirdischen Zelle entrollten die Männer ein schwarzes Stoffbündel. Eine Reihe von Werkzeugen, die sie aus scharfen Tierknochen und Bambusstöcken hergestellt hatten, kamen darin zum Vorschein. Aus einigen der selbstgebauten Werkzeuge ragten metallene Nadeln.
Der Europäer saß geduldig auf seiner Tatami-Matte und verfolgte aufmerksam die Handlungen seiner Mithäftlinge.
Einer der Gefangenen griff sich die achtlos weggeworfenen Batterien. Zuerst befeuchtete er etwas Toilettenpapier und begann die Batterien aneinanderzubinden. Dann befestigte er einen Draht an beiden Enden und schloss auf diese Weise den Stromkreis.
Der Europäer bemerkte, dass der Draht in der Mitte ausgefranst war und sich wie ein Feuerzeug aufzuheizen begann. Er warf einen Blick zu Mister Stirnband, der neben ihm auf einer anderen Matte saß.
Im fahlen Licht des Mondes, welches durch eine Öffnung einige Meter über ihnen herabschien, waren deutlich die zahlreichen Tätowierungen auf seiner Haut zu erkennen. Der Japaner drehte den Kopf und sah, dass der europäische Zellengenosse seinen auf diese Weise verzierten Rücken bewunderte. Der Europäer konnte nicht sagen, ob die Tätowierungen aus der Zeit ihrer Inhaftierung stammten, doch im Laufe der Jahre sollte er von dem Mann noch vieles über die fernöstliche Lebensart lernen.
Und so dauerte es gar nicht lange, bis der kräftige Europäer Mister Stirnband auf der mondbeschienen Matte ablöste und sich von den drahtigen alten Händen seines Freundes ebenfalls eine der traditionellen Wabori-Tätowierungen in seinen vernarbten Rücken ritzen ließ.
Eine wunderschöne Kirschblüte.
Später ging Mister Stirnband auch dazu über, dem Europäer das Gesicht und den Kopf zu rasieren.
Jahre vergingen. Wie viele? Zwanzig? Fünfundzwanzig? Vielleicht sogar dreißig.
Mister Stirnband war merklich gealtert.
Die langen Arme des Europäers waren mittlerweile mit wundervoll gestalteten Tätowierungen geschmückt. Ein in die Lüfte steigender Drache und ein Samurai zierten seinen muskulösen Rücken. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er einen seiner Mitgefangenen dabei, wie er einen Schnürsenkel entfernte und diesen an einen kurzen Bambusstock band, dann bemerkte er auch die Rasierklingen, die der Mann an den Schnürsenkel knotete. Die Männer planten etwas. Er spürte, dass ein Aufstand in der Luft lag, und wieder fühlte er diese unbändige Wut in sich hochkochen. Die Jahre in der Zelle hatten ihn auf einen solchen Moment vorbereitet. Wann es so weit sein würde, wusste er nicht. Doch tief in seinem Inneren brodelte der Zorn, sein Aggressionspotenzial stieg über die Zeit immer mehr an. Wenn die Wut ihn zu übermannen drohte, trainierte er in seiner Zelle, stemmte Liegestütze mit einem seiner Zellengenossen auf dem Rücken.
Mister Stirnband war nun siebzig Jahre alt, seine Uniform beinahe vollständig verschlissen und er selbst so mitgenommen wie die Kleidung, die er am Leibe trug. Aber er war unglaublich loyal. Auf gewisse Weise ähnelte er der Figur des Freitag in Daniel Defoes Geschichte von Robinson Crusoe. Er sprach nur selten, und wenn er es tat, drang oft nur ein unverständliches Murmeln über seine Lippen. Hin und wieder raunte er ein »Hai«, untermalt von seinem fast durchgehenden Kopfnicken. Vorsichtig schob er die Nadel unter die Haut des Europäers, so wie er es bereits viele Male in den vergangenen Jahrzehnten getan hatte. Nur zu gern hätte er sich dem Europäer vorgestellt, aber er hatte Schwierigkeiten, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Er hatte ihn vergessen. Die Tage und Nächte der Folter hatten ihre Spuren an seinem gezeichneten Verstand hinterlassen. Mister Stirnband war in diesem Gefängnis gelandet, weil er eine wesentliche Rolle in der Planung eines Protestmarsches gegen eine US-amerikanische Nuklearwaffenbasis gespielt hatte. Genau wie den Europäer hatten sie ihn einfach von der Straße weggeholt. Als er verschwunden war, hingen seine Mutter und sein Vater über fünfundzwanzig Jahre hinweg immer wieder frische Vermissten-Plakate auf, bis zu ihrem Tod.
Seine damalige Freundin, die ebenfalls Aktivistin gewesen war und es geschafft hatte, rechtzeitig unterzutauchen, führte daraufhin die Arbeit seiner Eltern fort. Und obwohl sie über die Zeit einen neuen Partner kennengelernt und eine Familie gegründet hatte, klebte sie sein Bild unermüdlich weiter an Schaufenster oder schob es unter die Scheibenwischer parkender Autos. Wenn ihre Kinder sie nach dem Mann fragten, den sie stets als ihren Onkel bezeichnete, erzählte sie ihnen, dass er ein gebildeter, herzlicher und treuer Mann gewesen war. Sie erzählte ihren Kindern, dass ihr Onkel immer dann geschwiegen hatte, wenn es angebracht war, gleichzeitig aber auch eine Stimme für Tausende sein konnte. Sie erklärte ihnen, dass er alle Menschen unabhängig ihres sozialen Status gleichermaßen respektiert und immer daran geglaubt hatte, dass es niemandem erlaubt sein sollte, sich über andere zu erheben. Eine Vorstellung, die sie auch an ihre Kinder weitergeben wollte.
Mister Stirnband war in geschichtlichen Dingen sehr bewandert und gleichzeitig ein wahrer Visionär gewesen. Der Schmerz über den Verlust seiner Familie und seiner Geliebten hatte ihn tief getroffen, wie ein Messer, dass sich ihm ins Herz bohrte. Er akzeptierte sein Schicksal und doch sehnte er sich danach, wenigstens die Chance gehabt zu haben, sich von ihnen verabschieden zu können. Manchmal fragte sich Mister Stirnband, wieso er nicht aufgegeben hatte und in diesem unterirdischen Gefängnis einfach gestorben war, wie so viele andere Männer. Die einzige Antwort, die ihm einfiel, war, dass ihn die Liebe seiner Verwandten in Freiheit am Leben hielt.
Donnergrollen. Ein Blitz zuckte am Himmel auf. Regen drang in ihre Zelle und rann an den steinernen Wänden hinab. Ein unangenehmes und zu allem Überfluss nicht selten auftretendes Ereignis, an das sich die Männer aber mittlerweile gewöhnt hatten. Der kräftige Europäer biss die Zähne zusammen. Auch er litt unter den Jahren der seelischen Misshandlungen und dem Verlust seiner Familie, sowie unter den beschwerlichen Umständen, tief unter der Erde in einer klammen, dunklen Zelle von der Außenwelt abgeschnitten zu sein. Ein gleißender Blitz ließ ihn kurz in flackerndem Licht erscheinen. Sein Zorn wuchs.
Eine Ratte huschte über den rissigen, unebenen Boden. Geschickt mied sie die vereinzelten Pfützen am Boden, wurde aber schließlich von einer knochigen Hand geschnappt.
Einer der japanischen Gefangenen, vielleicht sechzig Jahre alt, hatte die Ratte gepackt und zerquetschte sie zwischen seinen Fingern. Er war in eine Ecke der Zelle zurückgerutscht und schien vollkommen den Verstand verloren zu haben. Seine Pupillen glichen Scheiben schwarzer Oliven und seine Augäpfel waren so groß wie Billardkugeln.
Ein ähnlich aussehender Mann, der auf einer abgenutzten Tatami-Matte kauerte, zupfte Wanzen von seinem Kopf. Hin und wieder aß er verstohlen eine davon, verbarg die Leckerbissen aber vor seinen Zellengenossen, weil er glaubte, dass sie ihm diese streitig machen würden, wenn sie ihn essen sahen. Seine Kiefer arbeiteten, während er die Wanzen zwischen seinen klappernden Zähnen zermalmte.
Die schmutzige und klamme Umgebung der unterirdischen Zelle setzte den Männern unerbittlich zu. Ihre psychische und physische Verfassung hätte dringender Behandlung bedurft. Doch stattdessen starrten sie