H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
werde. Als wir die Eisenbahnbrücke überschritten, sahen wir, dass ein stetig anwachsender Menschenhaufen sich in und vor dem Bahnhof angesammelt hatte, und dass der von Menschen wimmelnde Bahnsteig mit Koffern und Paketen überhäuft war. Der gewöhnliche Verkehr war unterbrochen worden.
Wir hielten uns einige Zeit in Weybridge auf. Um die Mittagsstunde befanden wir uns neben der Schleuse von Shepperton, wo der Wey und die Themse sich vereinigen. Bis dahin hatten wir einen Teil unserer Zeit damit verbracht, zwei alten Frauen beim Beladen ihres kleinen Karrens behilflich zu sein. Der Wey hat eine dreiteilige Mündung, und an dieser Stelle kann man Boote mieten oder man benützt die Fähre, die über den Fluss führt. Auf der Seite von Shepperton war ein Gasthaus mit einem Rasenplatz, und dahinter erhob sich der Turm der Kirche von Shepperton über den Bäumen.
Hier fanden wir einen erregten und lärmenden Haufen Flüchtiger versammelt. Bisher war die Flucht noch nicht zu einer Panik angewachsen; doch waren schon jetzt viel mehr Leute da, als die Boote, die hin- und herfuhren, aufnehmen konnten. Immer mehr Menschen kamen, die unter ihren schweren Lasten keuchten. Ein Ehepaar schleppte sogar eine kleine Haustür heran, auf die es seine Gerätschaften getürmt hatte. Ein Mann meinte, er würde es versuchen, vom Bahnhof von Shepperton abzufahren.
Es wurde viel hin- und hergeschrien, und ein Mann machte sogar Witze. Die Vorstellung der Leute schien die zu sein, dass die Marsleute einfach furchtbare menschliche Wesen seien, die wohl eine Stadt angreifen und plündern könnten, aber die man schließlich doch ganz gewiss vernichten werde. Jeden Augenblick spähten die Leute über den Wey hinweg nach den Wiesen in der Richtung gegen Chertsey. Dort aber war alles ruhig.
Jenseits der Themse, außer gerade dort, wo die Boote landeten, war alles still, in grellem Gegensatz zur Surrey-Seite. Die Leute, welche dort landeten, trabten alle den Feldweg hinab. Das große Fährboot hatte eben eine Fahrt zurückgelegt. Drei oder vier Soldaten standen auf dem Rasenplatz des Gasthauses, gafften und machten sich über die Flüchtlinge lustig, ohne Miene zu machen, ihnen zu helfen. Das Gasthaus war geschlossen, eine Folge der Sonntagsruhe.
»Was ist das?«, rief ein Bootsmann, und »Kusch dich, du Narr!«, herrschte ein Mann neben mir seinen kläffenden Hund an. Da war der Ton wieder, dieses Mal aus der Gegend von Chertsey, ein dumpfer Schlag — das Feuern eines Geschützes.
Die Schlacht begann. Fast unmittelbar fielen unsichtbare Batterien — unsichtbar wegen der Bäume — jenseits des Flusses zu unserer Rechten in den Chor ein, heftig feuernd — eine nach der anderen. Eine Frau kreischte. Jedermann stand bei dem plötzlichen Beginn der Schlacht wie gebannt da; sie tobte neben uns, und uns doch unsichtbar. Nichts war zu sehen, als ebene Wiesengründe, als meist unbekümmert weiter grasende Kühe, und beschnittene Silberweiden, die regungslos im warmen Sonnenlicht standen.
»Die Soldaten werden’s ihnen schon zeigen«, meinte eine Frau neben mir etwas unsicher. Ein feiner Rauch erhob sich über den Baumkronen.
Plötzlich sahen wir eine Rauchwolke in weiter Ferne flussaufwärts auffahren, ein Rauchstoß, der in die Luft schoss und dort hängen blieb. Im selben Augenblick hob sich der Boden unter unseren Füßen, und ein heftiger Zündschlag erschütterte die Luft; einige Fenster in den näher gelegenen Häusern zerschellten. Wir blieben betäubt stehen.
»Da sind sie!«, schrie ein Mann in blauem Jersey. »Da drüben! Seht ihr’s nicht? Da drüben!«
Blitzschnell, einer nach dem anderen, tauchten ein, zwei, drei, vier gepanzerte Marsleute in weiter Ferne bei den kleinen Bäumen, jenseits der ebenen Wiesen auf, die sich nach Chertsey hinziehen. Sie näherten sich eilends dem Flusse. Kleine Gestalten in Kapuzen schienen sie zuerst, die sich rollend fortbewegten, schnell wie fliegende Vögel.
Dann, in schiefer Richtung gerade auf uns zu, kam ein Fünfter. Ihre gepanzerten Leiber glitzerten in der Sonne, als sie auf die Geschütze zurasten, und im Näherkommen mit reißender Schnelligkeit wuchsen. Einer, der am weitesten entfernt, ganz links fuhr, schwang einen ungeheuren Behälter in der Luft, und der geisterhafte, furchtbare Hitzestrahl, den ich schon Freitag nachts gesehen hatte, fuhr gegen Chertsey und traf die Stadt.
Beim Anblick dieser seltsamen, schnellen, schrecklichen Geschöpfe schien die Menge am Ufer wie von Schrecken erstarrt zu sein. Man hörte weder Schreien noch Jammern. Alles blieb still. Dann ein heiseres Gemurmel, eine Bewegung von Füßen — ein Aufspritzen von Wasser. Ein Mann, der zu erschreckt war, um seine Reisetasche, die er auf der Schulter trug, fallen zu lassen, warf sich herum und stieß mich mit der Kante seiner Bürde fast zu Boden. Eine Frau stieß mit ihrer Hand nach mir und stürzte an mir vorüber. Zugleich mit der Menge wandte auch ich mich um; aber mein Entsetzen war nicht stark genug, um mich am Denken zu hindern. Der furchtbare Hitzestrahl beschäftigte meine Gedanken. Unter das Wasser flüchten! Das war das Richtige!
»Unter’s Wasser!«, schrie ich, ohne gehört zu werden.
Ich wandte mich wieder um und rannte dem herankommenden Marsmann entgegen — rannte spornstreichs die kiesige Böschung hinab und stürzte mich kopfüber ins Wasser. Andere folgten mir. Ein Boot kam zurück und die Leute sprangen heraus, als ich an ihnen vorbeistürmte. Die Steine unter meinen Füßen waren lehmig und schlüpfrig, und der Fluss war so seicht, dass ich vielleicht zwanzig Fuß weit lief und das Wasser mir nur bis zur Hüfte reichte. Dann, als der Marsmann kaum zweihundert Yard entfernt über mir auftauchte, warf ich mich nieder und tauchte unter. Das Aufklatschen des Wassers, so oft die Leute aus den Booten in den Fluss sprangen, scholl wie Donnerschläge in meinen Ohren. Auf beiden Seiten des Flusses stiegen Leute ans Land.
Aber die Marsmaschine beachtete diese hin- und herlaufende Menschenmenge nicht mehr, als etwa ein Mensch, dessen Fuß einen Ameisenhaufen zerstört hat, die Verwirrung beachtet, die er im Ameisenvolk angerichtet hat. Als ich, halb erstickt, meinen Kopf über das Wasser erhob, war die Dachhaube des Marsmannes gegen die Batterien gerichtet, die noch immer über den Fluss schossen; und als er herankam, schwang er frei in der Luft jenes Ding, das der Erzeuger des Hitzestrahls sein musste.
Im nächsten Augenblick war die Maschine am Ufer, und weit ausschreitend watete sie halb durch. Die Knie der Vorderbeine waren schon auf dem anderen Ufer, und gleich darauf erhob es sich schon zu seiner vollen Höhe, ganz in der Nähe von Shepperton. Sofort begannen die sechs Geschütze, welche jedermann unsichtbar, am rechten Ufer, hinter den Ausläufern des Dorfes verborgen waren, gleichzeitig zu feuern. Die unerwartete Nähe der Erschütterung, die Schnelligkeit, mit der der letzte Schuss dem ersten folgte,