H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
und blickte gewöhnlich unstet von mir weg.
»Was bedeutet das?«, sagte er, »Was sollen alle diese Dinge bedeuten?«
Ich starrte ihn an und gab keine Antwort.
Er streckte eine dünne weiße Hand aus und fuhr in fast klagendem Ton fort:
»Warum werden solche Dinge zugelassen? Was für Sünden haben wir begangen? Die Morgenandacht war zu Ende, ich wandelte durch die Straßen, um meine Gedanken für den Nachmittag zu klären — da — Feuer, Erdbeben, Tod! Als ob es Sodom und Gomorrha wäre! Die ganze Arbeit zerstört, die ganze Arbeit! Wer sind diese Marsleute?«
»Wer sind wir?«, antwortete ich und räusperte mich.
Er umklammerte seine Knie und wandte sich wieder mir zu. Eine halbe Minute vielleicht brütete er schweigend vor sich hin.
»Ich wandelte durch die Straßen, um meine Gedanken zu klären«, sagte er. »Und plötzlich Feuer, Erdbeben, Tod!«
Er verfiel wieder in Schweigen; sein Kinn sank fast auf seine Knie.
Bald darauf fing er wieder an und fuhr mit der Hand umher.
»Die ganze Arbeit — alle die Sonntagsschulen. Was haben wir denn getan — was hat Weybridge getan? Alles verschwunden — alles zerstört. Die Kirche! Wir haben sie erst vor drei Jahren wieder aufgebaut. Verschwunden! — Vom Erdboden weggefegt! Warum?«
Abermals eine Pause; dann brach er wieder los wie ein Rasender.
»Der Rauch Seines Feuers gehet auf für ewig und immerdar!«, schrie er.
Seine Augen flammten, und sein magerer Finger wies gegen Weybridge.
Ich war jetzt so weit, um mir über ihn klar zu werden. Das entsetzliche Trauerspiel, in das er verflochten war — er war offenbar ein Flüchtling aus Weybridge — hatte ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben.
»Sind wir weit von Sunbury?«, fragte ich in einem gleichgültigen Ton.
»Was sollen wir tun?«, fragte er. »Sind denn diese Geschöpfe überall? Ist ihnen denn die Erde übergeben worden?«
»Sind wir weit von Sunbury?«
»Diesen Morgen erst hielt ich den Frühgottesdienst ab.«
»Die Dinge haben sich seither verändert«, sagte ich ruhig. »Sie müssen Ihren Kopf oben behalten. Es gibt noch Hoffnung.«
»Hoffnung!«
»Ja; Hoffnung in Menge — trotz aller dieser Zerstörung!«
Ich fing an, meine Ansicht über unsere Lage darzulegen. Er hörte anfangs zu, aber während ich weitersprach, verwandelte sich das Interesse in seinen Augen wieder in das leere Starren von früher, und seine Blicke schweiften von mir weg in die Ferne.
»Das muss der Anfang vom Ende sein«, sagte er, mich unterbrechend, »das Ende! Der große und schreckliche Tag des Herrn! Wenn die Menschen werden anrufen die Berge und die Felsen, dass sie mögen fallen auf sie und sie verbergen — verbergen vor Seinem Angesicht, vor dem Antlitz dessen, der da sitzet auf dem Throne!«
Ich begann, die Sachlage zu verstehen. Ich gab meine anstrengenden Vernunftspredigten auf, richtete sich mühsam auf, und zu ihm tretend, legte ich meine Hand auf seine Schulter.
»Seien Sie ein Mann«, sagte ich. »Der Schrecken hat Sie um Ihren Verstand gebracht. Wozu ist denn die Religion gut, wenn sie beim ersten Unglück zusammenbricht? Bedenken Sie doch, was Erdbeben und Wasserfluten, Kriege und Vulkane schon früher der Menschheit angetan haben. Dachten Sie denn, dass Gott mit Weybridge eine Ausnahme machen wollte? … Er ist kein Versicherungsagent, Herr.«
Eine Zeit lang saß er in Schweigen verloren da.
»Aber wie sollen wir entfliehen?«, fragte er plötzlich. »Sie sind unverwundbar, sie sind erbarmungslos.«
»Weder das eine, noch, vielleicht, das andere«, antwortete ich. »Und je mächtiger sie sind, umso vernünftiger und behutsamer sollten wir sein. Nicht drei Stunden sind es her, dass einer von ihnen da drüben getötet wurde.«
»Getötet!«, sagte er, und starrte mich an. »Wie können die Gesandten des Herrn getötet werden?«
»Ich sah es«, fuhr ich in meiner Erzählung fort. »Der Zufall will es eben, dass wir ins Ärgste hineingeraten sind«, sagte ich, »das ist alles.«
»Was bedeutet denn jenes Flackern am Himmel?«, fragte er unvermittelt.
Ich sagte ihm, dass es die Signale der Heliografen seien – das Zeichen menschlicher Hilfe und Bemühungen am Himmel.
»Wir sind gerade mitten darinnen«, sagte ich, »so ruhig alles auch ist. Das Flackern am Himmel deutet auf nahenden Sturm. Dort drüben, glaube ich, sind die Marsleute, und gegen London zu, dort, wo die Hügel um Richmond und Kingston sich erheben, und die Bäume Schutz gewähren, werden Schanzen aufgeworfen und Geschütze aufgepflanzt. Bald werden die Marsleute wieder hierherkommen…«
Während ich noch sprach, sprang er auf und unterbrach mich mit einer Gebärde.
»Hören Sie«, sagte er …
Von jenseits der niedrigen Hügel über dem Wasser erschollen der dumpfe Widerhall ferner Geschütze und in weiter Ferne ein unheimliches Schreien. Dann war alles still. Ein Maikäfer schwirrte über die Hecke an uns vorüber. Hoch im Westen hing, bleich und kaum sichtbar, die Sichel des Mondes über dem Rauch von Weybridge und Shepperton und der heißen stillen Pracht der sinkenden Sonne.
»Wir tun am besten, diesen Weg einzuschlagen«, sagte ich, »nach Norden.«
XIV. In London
Mein jüngerer Bruder war in London, als die Marsleute Woking überfielen. Er war Student der Medizin, arbeitete gerade für eine bevorstehende Prüfung, und hörte von ihrer Ankunft nichts vor Samstag früh. Die Morgenblätter am Samstag enthielten als Ergänzung ziemlich ausführliche Fachartikel über den Planeten Mars, das Leben auf dem Planeten und so weiter und nur ein kurzes, in unbestimmten Wendungen gehaltenes Telegramm, das durch seine Kürze umso auffälliger wirkte.
Die Marsleute, durch die Annäherung einer Menschenmenge erschreckt, haben eine Anzahl Menschen mit einem Schnellfeuergeschütz getötet, so etwa lautete der Bericht. Das Telegramm schloss mit den Worten: »So furchtbar sie auch scheinen mögen, haben sich die Marsleute noch nicht aus der Grube, in die sie gefallen sind, gerührt und scheinen auch ganz unfähig dazu zu sein. Dies ist wahrscheinlich eine Folge der relativ