H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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wie Men­schen.« Die meis­ten er­schie­nen durch ihre selt­sa­men Er­fah­run­gen be­lebt und auf­ge­regt.

      Jen­seits von Vic­to­ria mach­ten die Wirts­häu­ser mit die­sen An­kömm­lin­gen ein gu­tes Ge­schäft. An al­len Stra­ßen­e­cken sam­mel­ten sich Leu­te an, la­sen Zei­tun­gen, spra­chen er­regt mit­ein­an­der, oder starr­ten die­se un­ge­wohn­ten Sonn­tags­gäs­te an. Die­se schie­nen sich mit der all­mäh­lich an­bre­chen­den Nacht nur noch zu ver­meh­ren und schließ­lich sa­hen die Stra­ßen aus, nach dem Be­richt mei­nes Bru­ders, wie die Hoch­stra­ße von Ep­son an ei­nem Der­by­tag. Mein Bru­der sprach meh­re­re die­ser Flücht­lin­ge an, er­hielt aber von den meis­ten nur un­zu­läng­li­che Ant­wor­ten.

      Kei­ner von ih­nen konn­te ihm ir­gend­wel­che Nach­rich­ten von Wo­king mit­tei­len, au­ßer ei­nem Mann, der ihm ver­si­cher­te, dass Wo­king in der vo­ri­gen Nacht gänz­lich zer­stört wor­den sei.

      »Ich kom­me aus Byfleet«, er­zähl­te er, »ein Mann auf ei­nem Zwei­rad kam am frü­hen Mor­gen durch un­se­ren Ort; er lief von Tür zu Tür und er­mahn­te uns zur Flucht. Dann ka­men Sol­da­ten. Wir gin­gen hin­aus, um zu se­hen, was los sei und sa­hen dich­te Rauch­wol­ken ge­gen Sü­den — nichts als Rauch; kei­ne le­ben­de See­le kam des We­ges. Dann hör­ten wir die Ge­schüt­ze in Chert­sey und die Leu­te eil­ten aus Wey­bridge her­an. So schloss ich denn mein Haus ab und ging fort.«

      Zu je­ner Zeit herrsch­te ein star­kes Ge­fühl der Er­bit­te­rung auf den Stra­ßen. Man fand, dass die Be­hör­den we­gen ih­rer Un­fä­hig­keit, der frem­den Ein­dring­lin­ge ohne alle die­se Un­zu­läng­lich­kei­ten Herr zu wer­den, Ta­del ver­dien­ten.

      Um acht Uhr etwa er­scholl im gan­zen Sü­den Lon­d­ons hef­ti­ges Ge­schütz­feu­er. Bei dem großen Lärm auf den Haupt­stra­ßen konn­te es mein Bru­der nicht hö­ren, aber als er sich durch die stil­len Ne­ben­gas­sen zum Fluss durch­schlug, hör­te er es ganz deut­lich.

      Es war zwei Uhr ge­wor­den, als er von West­mins­ter nach sei­ner Woh­nung am Re­gent Park zu­rück­kehr­te. Er war jetzt schon sehr be­sorgt um mich und durch die sicht­li­che Trag­wei­te die­ser Er­eig­nis­se ganz ver­stört. Sei­ne Ge­dan­ken be­schäf­tig­ten sich mit krie­ge­ri­schen Ein­zel­hei­ten, ge­nau so wie auch ich mich am Sams­tag da­mit be­schäf­tigt hat­te. Er dach­te an alle jene in er­war­tungs­vol­ler Ruhe har­ren­den Ge­schüt­ze, an je­nen plötz­lich in einen No­ma­den­be­zirk ver­wan­del­ten Land­strich. Er be­müh­te sich, hun­dert Fuß hohe »Kes­sel auf Stel­zen« sich vor­zu­stel­len.

      Ei­ni­ge Kar­ren, be­setzt von Flücht­lin­gen, fuh­ren die Ox­ford Street ent­lang, man­che auch in der Ma­ry­le­bo­ne Road. Aber so lang­sam ver­brei­te­ten sich die Nach­rich­ten, dass die Re­gent Street und die Port­land­stra­ße von je­nen Leu­ten, die ge­wöhn­lich Sonn­tag nachts dort lust­wan­deln, voll wa­ren. Wohl stan­den auch Grup­pen leb­haft sich be­spre­chen­der Men­schen um­her. Aber am Ran­de des Re­gent Parks er­gin­gen sich so vie­le stil­le Pär­chen im Lich­te der spär­li­chen Gas­lam­pen, wie man sie nur im­mer ge­wohnt war dort zu se­hen. Die Nacht war still und warm, fast ein we­nig drückend; ge­le­gent­lich scholl der Lärm der Ge­schüt­ze her­über, und nach Mit­ter­nacht be­merk­te man ein Wet­ter­leuch­ten ge­gen Sü­den.

      Mein Bru­der las im­mer wie­der das Zei­tungs­blatt, und fürch­te­te schon, dass mir das Schlimms­te zu­ge­sto­ßen sei. Er war rast­los und nach dem Abend­brot ging er wie­der aus und trieb sich ziel­los um­her. Dann kehr­te er zu­rück und ver­such­te sei­ne na­gen­den Ge­dan­ken durch sei­ne Prü­fungs­schrif­ten zu ver­scheu­chen. Bald nach Mit­ter­nacht ging er zu Bett, wur­de aber in den ers­ten Mor­gen­stun­den des Mon­tags durch den Schall von Tür­klop­fern, Fuß­ge­trap­pel auf den Stra­ßen, Ge­trom­mel und Glo­cken­läu­ten aus ei­nem düs­te­ren Traum ge­schreckt. Ein ro­ter Wi­der­schein spiel­te auf der De­cke. Ei­nen Au­gen­blick blieb er be­täubt lie­gen und frag­te sich, ob der Tag schon an­ge­bro­chen, oder die Welt ver­rückt ge­wor­den sei. Dann sprang er aus dem Bett und eil­te ans Fens­ter.

      Sein Zim­mer war eine Dach­kam­mer; und als er den Kopf zum Fens­ter hin­aus­steck­te, ver­nahm er die Stra­ße hin­auf und hin­ab einen dut­zend­fa­chen Wi­der­hall des Lär­mes, den das Öff­nen sei­ner Fens­ter her­vor­rief; und Köp­fe in al­len Spiel­ar­ten nächt­li­cher Ver­stört­heit tauch­ten auf. Über­all wur­den fra­gen­de Rufe laut: »Sie kom­men!«, brüll­te ein Schutz­mann, in­dem er auf das Tor los­häm­mer­te. »Die Mars­leu­te kom­men!« Dann eil­te er wei­ter zum nächs­ten Tor.

      Der Lärm von Trom­meln und Trom­pe­ten scholl von der Ka­ser­ne in der Al­ba­ny­stra­ße her­über; und in je­der Kir­che in Hör­wei­te war man da­mit be­schäf­tigt, den Schlaf durch re­gel­lo­ses hef­ti­ges Sturm­läu­ten zu tö­ten. Man ver­nahm das Geräusch sich öff­nen­der Tore, und in den ge­gen­über­lie­gen­den Häu­sern flamm­te ein Fens­ter nach dem an­de­ren in hel­lem, nach dem Dun­kel dop­pelt grel­len Licht auf.

      Eine ge­schlos­se­ne Kut­sche kam die Stra­ße her­auf­ge­sprengt. Zu­erst scholl das Geräusch un­ver­mu­tet von der Ecke her, das Geras­sel er­reich­te sei­nen Hö­he­punkt un­ter dem Fens­ter, und all­mäh­lich erstarb es in der Fer­ne. Dicht auf dem Fuße folg­ten zwei Miet­wa­gen, die Vor­hut ei­ner lan­gen Rei­he da­hin­sau­sen­der Ge­fähr­te, die zum größ­ten Teil zur Hal­te­stel­le Chalk Farm eil­ten, wo die nord-west­li­chen Son­der­zü­ge die Rei­sen­den auf­nah­men, und wo man die Stei­gung zum Eu­ston Bahn­hof ver­mei­den konn­te.

      Lan­ge Zeit starr­te mein Bru­der in dump­fer Be­täu­bung aus dem Fens­ter; er sah dem Schutz­mann nach, wie er auf ein Hau­stor nach dem an­de­ren häm­mer­te und sich sei­ner un­ver­ständ­li­chen Bot­schaft ent­le­dig­te. Da öff­ne­te sich die Zim­mer­tür mei­nes Bru­ders, und der Mann, der jen­seits der Trep­pe wohn­te, kam her­ein. Er war noch im Hemd, Bein­klei­dern und Pan­tof­feln, die Ho­sen­trä­ger hin­gen lose her­ab und sein wir­res Haar ver­riet noch die Spu­ren der Nacht.

      »Was zum Teu­fel ist denn los?«, frag­te er. »Ein Feu­er? Der Teu­fel hole die­sen Ra­dau!«

      Bei­de steck­ten ih­ren Kopf weit aus dem Fens­ter, eif­rig be­müht, zu ver­ste­hen, was es ei­gent­lich war, was der Schutz­mann rief. Aus den Sei­ten­gas­sen ka­men Leu­te her­aus, die in eif­rig schwat­zen­den Grup­pen um­her­stan­den.

      »Was zum Teu­fel soll denn das al­les be­deu­ten?«, frag­te der Nach­bar mei­nes Bru­ders.

      Mein Bru­der ant­wor­te­te nur so oben­hin und be­gann sich an­zu­zie­hen. Mit je­dem Klei­dungs­stück eil­te er ans Fens­ter, um nur ja nichts von der wach­sen­den Er­re­gung der Stra­ßen zu ver­säu­men. Auf ein­mal tauch­ten Leu­te auf, die ganz frü­he Zei­tungs­blät­ter ver­kauf­ten und mit ih­rem Ge­brüll die Stra­ße er­füll­ten.

      »Lon­don droht Er­sti­cken! Die Ver­tei­di­gung von King­ston und Rich­mond er­stürmt! Furcht­ba­res Massa­ker im Them­se­tal!«


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