H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Masse undurchdringlichen Qualmes, der seine Toten umhüllte.
Vor dem Morgengrauen ergoss sich der schwarze Rauch durch die Straßen Richmonds, und der in Auflösung begriffene Organismus der Regierung raffte sich vor seinem Ende noch zu einer letzten Pflicht auf: die Bevölkerung Londons zur Notwendigkeit augenblicklicher Flucht zu erwecken.
1 immer das hellste Gestirn außer dem Mond <<<
XVI. Die Flucht aus London
So begreift man wohl die brüllende Woge der Angst, die durch die größte Stadt der Welt jagte, gerade, als der Montag dämmerte — der Strom der Flucht, der mit reißender Schnelligkeit zu einem wilden Gewässer anschwoll, in schäumender Wut um die Bahnhöfe brandete, sich bei den Schiffswerften der Themse zu einem entsetzlichen Kampf aufbäumte und auf jedem möglichen Strombett, das nach Norden oder Osten führte, durchzubrechen suchte. Gegen zehn Uhr verlor die Organisation der Polizei, gegen Mittag selbst die Organisation der Eisenbahnbeamten jeden Zusammenhang, beide gaben ihre unterscheidenden und achtunggebietenden Formen auf, und verschmolzen erst zögernd, dann umso rascher mit der großen gleichartigen Masse des sozialen Körpers.
Alle Eisenbahnlinien nördlich der Themse und die südöstliche Bahngesellschaft in der Cannon Street waren schon Sonntag Mitternacht von der drohenden Gefahr verständigt worden; und schon um zwei Uhr waren die Züge überfüllt; die Leute kämpften wie Wilde um Stehplätze in den Wagen. Gegen drei Uhr wurden selbst in der Bishopsgatestreet Leute niedergetreten und erdrückt; etwa zweihundert oder noch mehr Yard vom Liverpoolstreet-Bahnhof entfernt wurden schon Revolverschüsse abgegeben und Leute erstochen; und die Schutzleute, die hingeschickt wurden, um die Ordnung aufrecht zu erhalten, zerschlugen, erschöpft und in Wut versetzt, den Leuten, die zu beschützen sie beauftragt waren, die Köpfe.
Als der Tag vorschritt und die Zugführer und die Heizer sich weigerten nach London zurückzukehren, da trieb der drückende Zwang der Flucht die Leute in immer mehr sich verdichtenden Massen von den Bahnhöfen weg auf die Straßen, die nach Norden führten. Um die Mittagsstunde war ein Marsmann in Barnes gesehen worden, und eine Wolke mächtig sinkenden schwarzen Qualmes trieb die Themse entlang über die Ebene von Lambeth und schnitt in ihrem trägen Herannahen jede Möglichkeit eines Entkommens über die Brücken ab. Eine zweite Wolkenschicht trieb über Ealing hinweg und umzingelte eine kleine Insel von Überlebenden auf Castle Hill, die wohl ihr Leben fristen, aber auf keinen Ausweg der Flucht hoffen konnten.
Nach fruchtlosem Kampf, bei Chalk Farm in einen nordwestlichen Zug zu gelangen — die Maschinen der Züge, welche am Güterbahnhof Reisende aufgenommen hatten, pflügten geradezu durch einen schreienden Menschenhaufen hindurch, und ein Dutzend handfester Männer kämpfte förmlich, um die Menge zu verhindern, den Zugführer gegen seinen Heizapparat zu schleudern — schlug sich mein Bruder auf die Chalk Farm Road durch, wand sich durch einen Schwarm dahineilender Fahrzeuge vorwärts und hatte das Glück, bei der Erstürmung eines Fahrräderladens als erster anzukommen.
Der vordere Radreif der Maschine, die er an sich riss, wurde durchschnitten, als er sie durch das Fenster zerrte; gleichwohl saß er auf und fuhr mit keiner ernsteren Verletzung als einen Schnitt im Handgelenk ab. Der steile Anstieg des Haverstock Hills war einiger gestürzter Pferde wegen nicht passierbar, und mein Bruder lenkte in die Belsize Road ein.
So entkam mein Bruder dem Wüten der Panik; dem Saum der Edgware Road folgend, erreichte er, hungrig und erschöpft, doch der Menge weit voran, um sieben Uhr Edgware. Die ganze Straße entlang standen die Leute neugierig und staunend. Mein Bruder wurde von einer Anzahl Radfahrern, einigen Reitern und zwei Automobilen überholt. Eine Meile vor Edgware brachen die Radreifen, und die Maschine wurde unbrauchbar. Er ließ sie auf der Straße liegen und schleppte sich ins Dorf. In der Hauptstraße des Ortes waren die Laden halb geöffnet und auf den Bürgersteigen, in den Hausfluren, an den Fenster sammelten sich Leute an, die verwundert auf jenen außergewöhnlichen Zug von Flüchtlingen starrten, der jetzt heranzunahen begann. Meinem Bruder gelang es, in einem Wirtshaus etwas zu essen zu bekommen.
Er blieb einige Zeit in Edgware, ratlos, was er beginnen solle. Die Flüchtlinge nahmen an Zahl immer mehr zu. Viele von ihnen schienen wie mein Bruder geneigt zu sein, im Orte zu bleiben. Von den Eindringlingen vom Mars wusste niemand Neues zu berichten.
Die Straße war jetzt schon voll von Leuten, aber noch lange nicht überfüllt. Die meisten Flüchtlinge waren schon mit Fahrrädern ausgerüstet, bald aber tauchten auch Automobile, Hansoms1 und Kutschen auf, die rasch vorübereilten und in den dichten Staubwolken verschwanden, die auf der Straße nach St. Albans aufwirbelten.
Es war vielleicht nur ein ganz unklares Vorhaben, den Weg nach Chelmsford zu wählen, wo einige seiner Freunde wohnten, was meinen Bruder schließlich bewog, einen stillen Feldweg, der ostwärts führte, einzuschlagen. Nach kurzer Zeit gelangte er zu einer Zaunsteige, kletterte hinüber und folgte einem Fußweg in nordöstlicher Richtung. Er kam an einigen Bauernhäusern und mehreren kleinen Ortschaften vorbei, deren Namen er nicht kannte. Er sah nur wenige Flüchtlinge; erst auf einem Grasweg in der Nähe von High Barnet stieß er auf die zwei Frauen, die seine Reisegefährtinnen werden sollten. Er kam gerade zur rechten Zeit, um sie zu retten.
Er hörte ihre Schreie und um die Ecke eilend, sah er zwei Männer, die sie aus dem kleinen Ponywagen, den sie lenkten, mit Gewalt herauszuzerren suchten, während ein dritter sich damit abmühte, den Kopf des erschreckten Ponys zu halten. Die eine der Damen, eine kleine in Weiß gekleidete Frau, kreischte nur immerzu; die andere, eine dunkle schlanke Erscheinung, schlug nach dem Manne, der ihren Arm gepackt hatte, mit der Peitsche, die sie in ihrer freien Hand hielt.
Mein Bruder erfasste die Sachlage auf der Stelle, er rief laut und eilte auf den Kampfplatz. Einer der Männer ließ sofort von den Damen ab und wandte sich ihm zu. Mein Bruder, der aus dem Gesicht seines Gegners sofort erkannte, dass ein Kampf unvermeidlich sei, stürzte sich als der erfahrene Boxer, der er war, sofort auf ihn und schlug ihn, gegen das Wagenrad zu, nieder.
Es war nicht die Zeit, um die Ritterlichkeit von Boxern zu üben, und mein Bruder machte ihn durch einen Fußtritt kampfunfähig. Dann packte er den Mann, der die schlanke Dame am Arm gefasst hatte, beim Rockkragen. Er hörte das Klappern von Hufen, die Peitsche schlug ihm ins Gesicht, ein dritter Gegner