H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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Feu­er­flam­men, die aus den Häu­sern vor ih­nen ge­gen den blau­en Him­mel auf­schos­sen, plötz­lich auf. Der wil­de Lärm lös­te sich jetzt in ein wir­res Ge­men­ge vie­ler Stim­men, das Knir­schen vie­ler Rä­der, das Äch­zen von Wa­gen und das Ge­klap­per von Hu­fen auf. Kei­ne fünf­zig Yard vom Kreuz­weg ent­fernt, mach­te der Feld­weg eine schar­fe Bie­gung.

      »Gott im Him­mel!«, rief Frau El­phin­sto­ne. »Wo­hin füh­ren Sie uns denn?«

      Mein Bru­der hielt an.

      Denn die Haupt­stra­ße war ein ko­chen­der Strom von Leu­ten, ein rei­ßen­der Wild­bach mensch­li­cher We­sen, die nach Nor­den eil­ten, ei­ner hin­ter dem an­de­ren drän­gend. Ein lan­ger Wol­ken­zug von Staub, weiß und leuch­tend im Son­nenglanz, ließ al­les in­ner­halb von zwan­zig Fuß über dem Bo­den grau und un­deut­lich er­schei­nen. Er bil­de­te sich im­mer von Neu­em durch die da­hin­ei­len­den Füße ei­ner dich­ten Men­ge von Pfer­den und Män­nern und Frau­en zu Fuß, und durch die Rä­der von Ge­fähr­ten al­ler er­denk­li­chen Art.

      »Platz da!«, hör­te mein Bru­der Stim­men schrei­en. »Macht Platz!«

      Zum Kreu­zungs­punkt des Feld­we­ges und der Stra­ße zu ge­lan­gen, hieß so viel wie in den Rauch ei­nes Feu­ers hin­ein­fah­ren; die Men­ge brüll­te wie ein Feu­er, und der Staub war heiß und pri­ckelnd. Und in der Tat stand et­was wei­ter oben an der Stra­ße ein Land­haus in Flam­men und wälz­te dich­te Men­gen schwar­zen Rau­ches über die Stra­ße, um die Ver­wir­rung zu er­hö­hen.

      Zwei Män­ner ka­men dem Wa­gen nach. Dann ein schmut­zi­ges Weib, das ein schwe­res Bün­del trug und hef­tig schluchz­te. Ein ver­lau­fe­ner Jagd­hund, her­un­ter­ge­kom­men und be­deckt mit Schram­men, lief schnüf­felnd um sie her­um und floh, als mein Bru­der ihm droh­te.

      So­viel man von der Stra­ße, die nach Lon­don führ­te, zwi­schen den Häu­sern zur Rech­ten se­hen konn­te, war sie ein wild ein­her­flie­ßen­der Strom schmut­zi­ger, flie­hen­der Leu­te, die zwi­schen die Land­häu­ser zu bei­den Sei­ten des We­ges ein­ge­klemmt wa­ren; die schwar­zen Köp­fe, die dicht an­ein­an­der­ge­dräng­ten Ge­stal­ten tra­ten deut­li­cher her­vor, als sie ge­gen die Stra­ßen­e­cke zu­stürz­ten und vor­über­eil­ten, dann tauch­te ihre Ei­gen­art wie­der in der flie­hen­den Men­ge un­ter, die end­lich von ei­ner Staub­wol­ke in der Feme ver­schlun­gen wur­de.

      »Vor­wärts! Vor­wärts!«, rie­fen die Stim­men, »Platz da, macht Platz!«

      Die Hän­de je­des Ein­zel­nen dräng­ten den Rücken sei­nes Vor­der­man­nes. Mein Bru­der stand bei dem Kopf des Po­nys. Un­wi­der­steh­lich an­ge­zo­gen ging er Schritt für Schritt vor­wärts den Feld­weg hin­ab.

      Edg­wa­re war ein Schau­platz der Ver­wir­rung, Chalk Farm ein auf­rüh­re­ri­scher Tu­mult ge­we­sen, hier aber war eine gan­ze Be­völ­ke­rung in Be­we­gung. Man kann sich die­se Scha­ren schwer vor­stel­len. Sie hat­ten kei­ne per­sön­li­che Ei­gen­art mehr. Die Ge­stal­ten er­gos­sen sich nur so aus der Stra­ßen­e­cke und schon wa­ren nur ihre Rücken mehr in der Men­ge am Feld­weg zu se­hen. Zu bei­den Sei­ten der Stra­ße ka­men die Flücht­lin­ge, die, von den Rä­dern be­droht, über die Erd­lö­cher stol­pernd, ei­ner über den an­de­ren tau­melnd, zu Fuß ge­hen muss­ten.

      Die Kar­ren und die Wa­gen dräng­ten sich dicht ei­ner hin­ter dem an­de­ren und lie­ßen nur we­nig Platz für jene ra­sche­ren und un­ge­dul­di­ge­ren Fahr­zeu­ge, die je­den Au­gen­blick vor­wärts schos­sen, so oft sich eine Ge­le­gen­heit dazu bot, da­bei schleu­der­ten sie die Leu­te rück­sichts­los ge­gen die Zäu­ne und die Git­ter der Land­häu­ser.

      »Nur drauf los!«, war der all­ge­mei­ne Schrei. »Nur drauf los! Sie kom­men!«

      Auf ei­nem Kar­ren stand ein blin­der Mann in der Uni­form der Heils­ar­mee. Er schlen­ker­te mit sei­nen ge­krümm­ten Fin­gern her­um und brüll­te un­auf­hör­lich: »O Ewig­keit! O Ewig­keit!« Sei­ne Stim­me war hei­ser und über­aus laut, so­dass mein Bru­der ihn noch lan­ge hö­ren konn­te, als er im süd­west­li­chen Staub schon den Bli­cken ent­schwun­den war. Ei­ni­ge Kar­ren wa­ren voll­ge­stopft von Leu­ten, die blöd­sin­nig auf ihre Pfer­de ein­hie­ben und mit an­de­ren Kut­schern zank­ten; ei­ni­ge Leu­te wie­der sa­ßen re­gungs­los da, mit trost­lo­sen Au­gen ins Lee­re star­rend; an­de­re nag­ten vor Durst an ih­ren Hän­den oder la­gen auf dem Bo­den ih­res Fuhr­werks lang aus­ge­streckt. Die Zäu­me der Pfer­de wa­ren mit Schaum be­deckt, ihre Au­gen blut­un­ter­lau­fen.

      Mau sah Miet­wa­gen, Kut­schen, Ge­schäfts­wa­gen, Fuhr­wer­ke ohne Zahl, eine Post­kut­sche, einen Stra­ßen­säu­be­rungs­wa­gen mit der Auf­schrift »Ge­mein­de­be­zirk St. Pan­cras«, einen rie­si­gen Bau­holzwa­gen mit roh aus­se­hen­den Ge­sel­len be­la­den. Der Ge­schäfts­kar­ren ei­ner Braue­rei ras­sel­te vor­über; sei­ne bei­den Rä­der wa­ren mit fri­schem Blut be­spritzt.

      »Aus dem Weg!«, rie­fen die Stim­men. »Aus dem Weg!«

      »Ewig—keit! Ewig—keit!«, hall­te es von der Stra­ße wie­der.

      Trau­ri­ge, ab­ge­ma­ger­te Frau­en schlepp­ten sich wei­ter, gut ge­klei­det, mit Kin­dern, die wein­ten und im­mer stol­per­ten; ihre zar­ten Klei­der er­stick­ten in Staub und ihre mü­den Ge­sich­ter wa­ren von Trä­nen ent­stellt. Vie­le von ih­nen wa­ren von teils hilf­rei­chen, teils mür­ri­schen und ro­hen Män­nern be­glei­tet. Sei­te an Sei­te mit ih­nen dräng­te sich mit ro­her Ge­walt ein Hau­fen Lon­do­ner Stra­ßen­aus­wurfs vor­wärts, in schwar­ze Lum­pen ge­klei­det, mit lau­ter Stim­me un­flä­ti­ge Re­den im Mun­de füh­rend. Dann sah man stäm­mi­ge Ar­bei­ter, die kraft­voll vor­wärts­dräng­ten, elend aus­se­hen­de, un­ge­kämm­te Bur­schen, of­fen­bar La­den­schwen­gel oder Tag­schrei­ber, nach ih­rer Klei­dung zu schlie­ßen, die ge­le­gent­li­che Rau­fe­rei­en ver­an­stal­te­ten; mein Bru­der be­merk­te noch einen ver­wun­de­ten Sol­da­ten, fer­ner Leu­te, die wie die Ge­päck­trä­ger der Bahn­hö­fe ge­klei­det wa­ren, und ein trost­los aus­se­hen­des Ge­schöpf in ei­nem Nacht­hemd, über das ein Rock ge­wor­fen war.

      Aber so ver­schie­den auch ihre Zu­sam­men­set­zung war, ge­wis­se Züge hat­te die­se Men­ge ge­mein. Angst und Schmerz brü­te­ten auf den Ge­sich­tern, und Angst hin­ter ih­nen. Ein Lärm auf der Stra­ße, ein Streit um einen Wa­gen­platz, wa­ren ge­nü­gend, um die­se gan­ze Schar zur Be­schleu­ni­gung ih­rer Schrit­te an­zu­spor­nen; selbst ein Mann, der so elend und ge­bro­chen war, dass sei­ne Knie un­ter ihm wank­ten, wur­de für einen Au­gen­blick zu er­neu­ter Tä­tig­keit auf­ge­sta­chelt. Hit­ze und Durst hat­ten bei die­ser Men­ge schon ihr Werk ge­tan. Die Haut war tro­cken, die Lip­pen wa­ren schwarz und auf­ge­sprun­gen. Alle wa­ren sie durs­tig und er­mat­tet; ihre Füße wund. Und un­ter den ver­schie­den­ar­ti­gen Schrei­en hör­te man Ge­zänk, Vor­wür­fe und Ge­stöh­ne aus Er­mat­tung und Schwä­che. Die Stim­men der meis­ten wa­ren schon hei­ser und schwach. Es war im­mer das alte Lied mit dem al­ten Kehr­reim:

      »Platz! Platz! Die Mars­leu­te kom­men!«

      Nur we­ni­ge ras­te­ten aus oder trenn­ten sich von der Flut. Der Feld­weg mün­de­te ziem­lich ab­schüs­sig in ei­ner en­gen Öff­nung in die Haupt­stra­ße und mach­te den trü­ge­ri­schen Ein­druck, als käme er aus Rich­tung Lon­don. Den­noch dräng­te ein ge­rin­ger Bruch­teil


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