H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Flüchtige, der sich jetzt umgewandt hatte, folgte in einiger Entfernung.
Plötzlich taumelte mein Bruder und fiel zu Boden; sein nächster Verfolger stürzte auf ihn los, und als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah er sich neuerdings zwei Angreifern gegenüber. Wenig fehlte und es wäre um ihn geschehen gewesen, hätte nicht die schlanke Dame mutig den Wagen angehalten. Sie stieg aus und kam ihm zu Hilfe. Sie hatte von Anfang an einen Revolver mit sich geführt, aber er war unter den Sitzen verborgen, als sie und ihre Gefährtin angegriffen wurden. Sie feuerte ihn nun auf eine Entfernung von sechs Yard ab und hätte um ein Haar meinen Bruder getroffen. Der weniger mutige Räuber machte sich davon und sein Spießgeselle folgte ihm, seine Feigheit verwünschend. Sie machten beide noch in Sicht Halt und blieben auf dem Feldweg, dort, wo der dritte Mann besinnungslos lag, stehen.
»Nehmen Sie ihn!«, rief die schlanke Dame und reichte meinem Bruder den Revolver.
»Gehen Sie zum Wagen zurück«, bat mein Bruder, indem er sich das Blut aus seiner gespaltenen Lippe mischte.
Sie wandte sich wortlos ab — beide keuchten heftig — und dann gingen sie beide zum Wagen, in dem die Dame in Weiß mit krampfhafter Anstrengung das erschreckte Pony zu halten bemüht war.
Die Räuber halten offenbar genug. Als mein Bruder sich wieder nach ihnen umblickte, zogen sie sich zurück.
»Ich setze mich hierher«, sagte mein Bruder, »wenn ich darf;« und er stieg ein und ließ sich auf den leeren Vordersitz nieder. Die Dame blickte über ihre Schulter.
»Geben Sie mir die Zügel«, sagte sie und strich mit der Peitsche über die Flanke des Ponys. Im nächsten Augenblick verbarg eine Krümmung des Weges die drei Männer den Blicken meines Bruders.
So kam es, dass mein Bruder keuchend, mit zerschnittenem Mund, verletztem Kiefer und blutbefleckten Fingerknöcheln ganz unvermutet auf einer unbekannten Straße mit zwei unbekannten Frauen dahinfuhr.
Er erfuhr, dass sie die Gattin und die jüngere Schwester eines in Stanmore lebenden Chirurgen waren, der in den frühen Morgenstunden von einem gefährlichen Fall in Pinner zurückgekehrt war und auf einer Eisenbahnstation, an der ihn sein Weg vorübergeführt, von dem Heranrücken der Marsleute gehört hatte. Er war nach Hause geeilt, hatte die Frauen geweckt — das Dienstmädchen hatte sie schon vor zwei Tagen verlassen — hatte etwas Mundvorrat zusammengerafft, zum Glück für meinen Bruder einen Revolver unter die Sitze gelegt und ihnen aufgetragen, nach Edgware zu fahren, wo es ihnen gelingen würde, in einen Zug zu kommen. Er blieb zurück, um die Nachbarn zu verständigen. Er hatte ihnen versprochen, sie etwa um halb fünf Uhr morgens einzuholen, und jetzt war es beinahe neun Uhr und sie hatten seither nichts von ihm gesehen. Sie konnten wegen des fast beängstigend wachsenden Gedränges nicht in Edgware bleiben, und so waren sie auf diesen Seitenweg gekommen.
Das war die Geschichte, die sie in abgebrochenen Sätzen meinem Bruder erzählten. Dann machten sie in der Nähe von Neu-Barnet wieder Halt. Mein Bruder aber versprach, so lange wenigstens bei ihnen zu bleiben, bis sie einen endgültigen Beschluss über ihre nächsten Schritte gefasst hätten oder bis der vermisste Arzt sie getroffen hätte. Er versicherte ihnen, ein erfahrener Revolverschütze zu sein — er war alles eher, als vertraut mit dieser Waffe — um ihnen Vertrauen einzuflößen.
Neben der Straße schlugen sie eine Art Lager auf, und das Pony tat sich bei der Hecke gütlich. Mein Bruder erzählte ihnen die Einzelheiten seiner Flucht aus London und überdies alles, was er von den Marsleuten und ihrem Treiben wusste. Die Sonne stieg höher am Himmel, und nach einiger Zeit stockte das Gespräch und wich einem unbehaglichen Zustand banger Erwartung. Einige Fußgänger kamen des Weges entlang, und aus ihnen brachte mein Bruder heraus, soviel er konnte. Jede gebrochene Antwort, die er erhielt, vertiefte seinen Eindruck von der schweren Heimsuchung, die über die Menschheit gekommen war, vertiefte auch seine Überzeugung von der zwingenden Notwendigkeit, die Flucht fortzusetzen. In dringenden Worten machte er das den Damen begreiflich.
»Wir haben Geld bei uns«, sagte das Mädchen, und dann zögerte sie, fortzufahren.
Ihre Augen begegneten denen meines Bruders, und ihr Vertrauen kehrte wieder.
»Auch ich habe Geld mit«, sagte mein Bruder.
Sie erklärte nun, außer einer Fünf-Pfundnote ungefähr dreißig Pfund in Gold bei sich zu führen, und schlug vor, damit zu einem Zug bei St. Albans oder Neu-Barnet zu gehen. Mein Bruder, der die Wut der Londoner, als sie die Züge stürmten, mit angesehen hatte, hielt dieses Vorhaben für hoffnungslos und setzte nun seinen Plan auseineinander, Essex zu durchqueren und so nach Harwich zu gelangen, um von dort das Land überhaupt zu verlassen.
Frau Elphinstone — so hieß die Dame in Weiß — wollte auf keine Ratschläge hören und rief unaufhörlich nach ihrem »George«; ihre Schwägerin aber war erstaunlich ruhig und vernünftig und war schließlich bereit, dem Vorschlag meines Bruders zu folgen.
So schlugen sie also die Richtung nach Barnet ein, in der Absicht, die große, nach Norden führende Straße zu kreuzen; mein Bruder lenkte das Pony, um es so viel wie möglich zu schonen.
Als die Sonne höher stieg, wurde es unbeschreiblich heiß und unter den Füßen brannte ein dichter weißlicher Sand, sodass sie nur sehr langsam vorwärtskamen. Die Hecken waren grau vor Staub. Und als sie in die Nähe von Barnet kamen, vernahmen sie ein immer lauter anschwellendes Gemurmel.
Sie begegneten immer mehr Leuten. Die meisten starrten vor sich hin, murmelten unbestimmte Fragen und sahen erschöpft, abgemagert und schmutzig aus. Ein Mann im Frack ging zu Fuß an ihnen vorüber, seine Augen auf den Boden geheftet. Sie hörten seine Stimme und als sie nach ihm blickten, sahen sie, wie er mit der einen Hand sein Haar raufte und mit der anderen nach unsichtbaren Dingen schlug. Als sein Wutaufall vorüber war, ging er seine Straße weiter, ohne sich nur einmal umzublicken.
Als die Gesellschaft meines Bruders sich dem Kreuzweg im Süden von Barnet näherte, sahen sie eine Frau über ein Feld zur Linken gegen die Straße zu kommen. Ein Kind trug sie auf dem Arm und zwei andere führte sie; dann ging ein Mann in einem schmutzigen schwarzen Anzug vorbei, einen dicken Rock in der einen Hand, eine kleine Reisetasche in der anderen. Als sie um die Ecke des Feldweges fuhren, dort, wo bei der Einmündung in die Landstraße einige Landhäuser stehen, kam ein kleines Gefährt, von einem schweißbedeckten schwarzen Pony gezogen, angefahren; ein blasser Bursche mit einem Sporthut lenkte es. Drei Mädchen, die wie Fabrikmädchen des Londoner