H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
hatten wie mein Bruder nun die Absicht, eine östliche Richtung einzuschlagen, und einige ganz Verzweifelte gingen sogar nach London zurück, um sich Nahrung zu holen. Das waren hauptsächlich Leute aus den nördlichen Vororten, deren Kenntnisse über den schwarzen Rauch nur vom Hörensagen stammten. Mein Bruder erfuhr, dass etwa die Hälfte der Mitglieder der Regierung sich in Birmingham versammelt hatte und dass ungeheure Mengen starker Sprengstoffe vorbereitet wurden, um für selbsttätige Minen in den Binnengrafschaften verwendet zu werden.
Zur gleichen Zeit hörte mein Bruder, dass die Midland Railway Company die im ersten Schrecken aufgegebene Strecke wieder dem Verkehr übergeben hatte und von St. Albans nach Norden gehende Züge abgehen ließ, um in den beängstigend überfüllten Nachbargrafschaften Londons etwas Luft zu schaffen. Ferner wurden in Chipping Ongar Bekanntmachungen erlassen, dahin lautend, dass in den Nordstädten große Vorräte von Mehl zur Verfügung stünden, und dass binnen vierundzwanzig Stunden unter die hungerleidende Bevölkerung der Nachbarschaft Brot verteilt werden würde. Diese Nachricht aber hielt meinen Bruder nicht von der Ausführung des Flucht- planes ab, den er ersonnen hatte; und die drei Leute drängten den ganzen Tag lang unaufhaltsam in östlicher Richtung vorwärts und erlebten von jener Brotverteilung nicht mehr als eben ihre Verheißung. Tatsache ist, dass auch niemand anderer mehr davon erlebte. In dieser Nacht ging der siebente Stern nieder und fiel auf den Primrose-Hügel. Er ging nieder, während Fräulein Elphinstone Wache hielt, denn sie unterzog sich abwechselnd mit meinem Bruder dieser Pflicht. Auch sie sah den Stern.
Am Mittwoch erreichten die drei Flüchtlinge, welche die Nacht auf einem Feld unreifen Weizens verbracht hatten, Chelmsford; hier bemächtigte sich eine Gruppe von Bewohnern, welche sich »Öffentlicher Unterstützungsausschuss« nannte, des Ponys als eines Nahrungsmittels und wollte nichts als Entgelt dafür geben, als das Versprechen, die Besitzer am nächsten Tage an seiner Verzehrung teilnehmen zu lassen. Hier waren Gerüchte im Umlauf, dass die Marsleute in Epping seien; auch erfuhr man, dass die Pulvermühlen von Waltham-Abbey während des fruchtlosen Versuches, einen der Eindringlinge in die Luft zu sprengen, zerstört worden seien.
Die Leute spähten hier von den Kirchtürmen nach den Marsleuten aus. Mein Bruder zog es vor — wie es sich später herausstellte zu seinem Glück — sofort nach der Küste aufzubrechen, statt auf Nahrung zu warten, obwohl sie alle drei sehr hungrig waren. Um die Mittagsstunde kamen sie durch Tillingham, das seltsam genug ganz still und verödet schien, bis auf einige diebische Plünderer, die nach Nahrungsmitteln suchten. In der Nähe von Tillingham erblickten sie plötzlich das Meer und zugleich die erstaunlichste Ansammlung von Fahrzeugen aller Art, die man sich nur vorstellen konnte.
Denn nachdem die Schiffer nicht mehr die Themse hinauffahren konnten, begaben sie sich an die Küste von Essex, nach Harwich, Walton, Clacton und später nach Foulness und Shoebury, um Leute aufzunehmen. Die Schiffe waren in einer ungeheuren sichelförmigen Linie aufgestellt, die sich gegen das Vorgebirge, die Naze,3 im Nebel verlor. Dicht am Ufer hatte eine Unmenge Fischerbarken Anker geworfen, englische, schottische, französische, holländische und schwedische; dann sah man kleine Dampfboote von der Themse, Yachten und elektrische Boote; darüber hinaus sah man Schiffe größerer Art, eine große Menge schmutziger Kohlenschiffe, schmucke Handelsschiffe, Viehtransporter, Passagierdampfer, Petroleumtanken, Ozeanbummler, selbst einen alten, weißen Transportsegler, zierliche weiße und graue Linienschiffe von Southampton und Hamburg; und die ganze blaue Küste am Blackwater entlang konnte mein Bruder dichte Schwärme von Booten wahrnehmen, von denen aus mit den Leuten auf dem Ufer gefeilscht wurde. Diese Bootmassen erstreckten sich auch das Blackwater hinauf beinahe bis Maldon.
Ungefähr zwei Meilen draußen lag ein Panzerschiff so tief im Wasser, dass es den Augen meines Bruders fast wie ein halbversenktes Schiff schien. Das war das Rammboot »Thunder Child« Es war das einzige Kriegsschiff in Sicht; aber in weiter Ferne lag auf dem glatten Spiegel der See — an jenem Tage herrschte Totenstille — eine Schlange schwarzen Rauches, welche die nächsten Panzerschiffe der Kanalflotte anzeigte, die in einer weit gedehnten Linie auf- und abkreuzten; sie fuhren während des Einfalles der Marsleute mit vollem Dampf und klar zum Gefecht längs der Themsemündung, kampfbereit und doch machtlos einzugreifen.
Beim Anblick des Meeres wurde Frau Elphinstone trotz der Zureden ihrer Schwägerin von heillosem Schrecken überwältigt. Sie war nie noch aus England hinausgekommen, und erklärte lieber sterben zu wollen, als sich ohne Freunde einem fremden Land anzuvertrauen, und so fort. Die Ärmste schien sich vorzustellen, dass die Franzosen und die Marsleute sehr ähnlich sein würden. Sie war während der zwei Reisetage immer hysterischer, erschreckter und niedergeschlagener geworden. Ihre fixe Idee war, nach Stanmore zurückzukehren. In Stanmore sei immer alles gut und sicher vor sich gegangen. In Stanmore würden sie George wiederfinden…
Nur mit den größten Schwierigkeiten gelang es ihnen, sie zum Ufer hinab zu bringen, wo es meinem Bruder glückte, die Aufmerksamkeit einiger Leute auf einem Raddampfer, der auf der Themse fuhr, auf sich zu lenken. Der Dampfer schickte ein Boot und bald wurde man handelseins: sechsunddreißig Pfund für alle drei. Das Schiff ging, wie die Leute ihnen mitteilten, nach Ostende.
Es war etwa zwei Uhr geworden, bis mein Bruder, der vor dem Betreten des Schiffes noch das Fahrgeld bezahlt hatte, sich mit seinen Schützlingen sicher an Bord des Dampfers befand. Im Schiff gab es Esswaren genug, wenn auch zu ganz abenteuerlichen Preisen. Und so gelang es den drei Personen, auf den Vordersitzen eine Mahlzeit einzunehmen.
Es waren bereits etwa vierzig Personen an Bord, von denen einige ihren letzten Groschen weggegeben hatten, um sich die Überfahrt zu sichern. Aber der Kapitän blieb beim Blackwater bis fünf Uhr Nachmittag stehen und nahm unausgesetzt Passagiere auf, bis das Verdeck beängstigend voll war. Er hätte wohl noch länger gezögert, hätte man nicht um jene Stunde vom Süden her den Schall von Geschützfeuer vernommen. Gleichsam zur Antwort feuerte das seewärts liegende Panzerschiff ein kleines Geschütz ab und hisste seine Flagge. Ein Rauchstrahl schoss aus seinem Schornstein.
Einige Reisende waren der Meinung, dass der Geschützlärm aus der Gegend von Shoeburyness komme, bis man bemerkte, dass er immer stärker wurde. Gleichzeitig tauchten südöstlich in weiter Ferne die Masten und das Takelwerk dreier Panzerschiffe, eines nach dem anderen, aus dem Meere auf, unter Wolken