H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
als sich der Vorfall ereignete, der uns zu Gefangenen machte.
»Es kann noch nicht Mitternacht sein«, sagte ich; und während ich noch sprach, zuckte ein blendender Schein auf, der von einem lebhaften grünen Licht begleitet war. Jeder Gegenstand in der Küche trat blitzschnell und ganz deutlich grün und schwarz heraus, um sofort wieder zu verschwinden. Und dann erfolgte eine derartige Erschütterung, wie ich sie weder vorher noch nachher je erlebt habe. So unmittelbar darauf, dass es fast gleichzeitig schien, hörte ich hinter mir einen Aufschlag, ein Klirren von Glas, ein Krachen und Prasseln rings um uns einstürzenden Mauerwerks; gleich darauf fiel der Mörtel der Decke auf uns herab, und zerschellte auf unsern Köpfen in eine Unzahl kleiner Bruchstücke. Ich stürzte der Länge nach auf den Boden, fiel mit dem Kopf gegen die Ofentüre und verlor mein Bewusstsein. Wie mir der Kurat erzählte, war ich lange Zeit besinnungslos und als ich wieder zu mir kam, beugte sich mein Gefährte mit einem Gesicht, das, wie ich später fand, in Folge einer Stirnwunde von Blut durchnässt war, über mich und besprengte mich mit Wasser.
Einige Zeit lang konnte ich nicht begreifen, was geschehen war. Aber allmählich dämmerte es mir. Eine Beule an meiner Schläfe trug das Ihre dazu bei.
»Fühlen Sie sich besser?«, fragte der Kurat flüsternd.
Endlich konnte ich ihm antworten. Ich setzte mich auf.
»Rühren Sie sich nicht«, sagte er. »Der Boden ist mit Splittern des Geschirrs bedeckt, das aus diesem Schrank fiel. Sie können sich auch unmöglich bewegen, ohne Lärm zu machen. Und ich glaube, sie sind draußen.«
Wir saßen beide ganz still da, sodass einer kaum des anderen Atem hörte. Alles schien totenstill, nur einmal fiel etwas, vielleicht Mörtel oder gebrochenes Ziegelwerk, neben uns mit ziemlich starkem Geräusch zu Boden. Draußen, aber ganz in unserer Nähe, hörten wir ein stellenweise aussetzendes, metallisches Geklirr.
»Hören Sie?«, flüsterte der Kurat, als es gleich wieder vernehmlich war.
»Ja«, sagte ich. »Aber was ist es?«
»Ein Marsmann!«, sagte der Kurat.
Ich lauschte wieder.
»Es sah nicht wie der Hitzestrahl aus«, sagte ich und eine Zeit lang gab ich mich der Vermutung hin, eine der großen Kriegsmaschinen wäre gegen das Haus angerannt, so ähnlich, wie ich eine gegen den Kirchturm von Shepperton anrennen gesehen hatte.
Unsere Lage war so wunderlich, so unbegreiflich, dass wir drei oder vier Stunden lang, bis es dämmerte, uns kaum rührten. Zögernd flutete das Licht herein, nicht durch das Fenster, sondern durch eine dreieckige Öffnung zwischen einem Balken und einem Haufen zerbröckelter Ziegel in der Mauer hinter uns. Zum ersten Male sahen wir in grauer Dämmerung das Innere der Küche.
Das Fenster war durch eine Masse Gartenerde eingedrückt worden, die über den Tisch, auf den wir saßen, herabrieselte und sich um unsere Beine legte. Draußen war der Boden hoch gegen das Haus zu aufgeworfen. Am oberen Ende des Fensterrahmens konnten wir eine ausgerissene Dachrinne bemerken. Der Boden war von gebrochenem Gerümpel aller Art dicht bedeckt. Ein Teil der gegen die Hausmauer zu gelegenen Küchenwand war eingestürzt; und nun, da das Tageslicht voll hereinsah, wurde es uns klar, dass der größere Teil des Hauses zertrümmert war. Einen lebhaften Gegensatz zu dieser Verwüstung bot der zierliche Anrichtetisch, der nach der Mode blassgrün gestrichen war und eine Anzahl Kupfergeschirre und Zinnkrüge enthielt. Die Tapete bestand in einer Nachahmung blauer und weißer Ziegel und ein paar farbige Bögen flatterten von den Wänden über dem Küchenherd herab.
Als die Dämmerung fortschritt, sahen wir durch den Spalt in der Mauer die Gestalt eines Marsmannes, der, wie ich vermute, bei dem noch glühenden Zylinder Wache stand. Bei diesem Anblick krochen wir, so behutsam wie möglich, aus dem Zwielicht der Küche in die Dunkelheit der Waschkammer zurück.
Ganz unvermittelt dämmerte in mir nun die richtige Auslegung der nächtlichen Vorfälle auf.
»Der fünfte Zylinder«, flüsterte ich, »das fünfte Geschoss vom Mars hat dieses Haus gestreift und uns unter seinen Trümmern begraben!«
Einige Zeit blieb der Kurat still, dann flüsterte er:
»Gott, erbarme dich unser!«
Dann hörte ich, wie er still vor sich hin wimmerte.
Von diesen Lauten abgesehen, lagen wir ganz still in der Waschkammer. Ich für meinen Teil wagte kaum, zu atmen, und saß da, mit meinen Augen unverwandt nach dem schwachen Licht der Küchentür starrend. Ich konnte gerade noch das Gesicht des Kuraten unterscheiden, eine undeutliche, ovale Fläche; außerdem noch seinen Kragen und seine Manschetten. Draußen begann jetzt ein Hämmern, wie auf Metall, dann ein heftiges Geheul, und dann nach einer kurzen Stille ein Zischen, wie das Zischen einer Maschine. Diese zum größten Teil rätselhaften Geräusche setzten sich mit geringen Unterbrechungen fort, und schienen womöglich im Lauf der Zeit an Zahl zuzunehmen. Jetzt hörte man ein gemessenes Aufschlagen und die Erschütterung, die folgte, ließ alles um uns herum erbeben. Das Geschirr in der Speisekammer klirrte und tanzte. Das dauerte lange so fort. Einmal erlosch das Tageslicht völlig, und der geisterhafte Kücheneingang tauchte in vollständige Dunkelheit unter. Viele Stunden lang müssen wir dort schweigend und fröstelnd gekauert sein, bis endlich unsere ermattete Aufmerksamkeit erlahmte.
Endlich erwachte ich, von nagendem Hunger gequält. Ich muss wohl annehmen, dass der größere Teil eines Tages vor jenem Erwachen vergangen war. Mein Hunger war mit einem Male so heftig, dass er mich zum Handeln trieb. Ich sagte dem Kuraten, dass ich nach Nahrung suchen wolle, und tastete mich leise nach der Speisekammer durch. Er gab keine Antwort, aber sobald ich zu essen begann, veranlasste ihn das leise Geräusch, das ich machte, auszustehen und mir nachzukriechen.
II. Was wir von dem zerstörten Haus aus erblickten
Nach dem Essen krochen wir wieder in die Waschkammer zurück; dort muss ich wieder eingeschlummert sein, denn als ich erwachte, fand ich mich allein. Das Aufschlagen und die Erschütterung dauerten mit ermüdender Hartnäckigkeit an. Mehrere Male rief ich flüsternd nach dem Kuraten; endlich tastete ich mich nach der Küchentür hin. Noch war es Tag und ich bemerkte meinen Gefährten, wie er am anderen Ende der Küche gegen das dreieckige Loch zu, das auf die Marsleute hinabsah, ausgestreckt lag. Seine Schultern waren in die Höhe gezogen, sodass ich seinen Kopf nicht sehen konnte.
Ich vernahm ein Gewirr von Geräuschen,