H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
Mädchen von acht oder neun Jahren, ganz allein, warf sich neben die Hecke dicht neben meinen Bruder und weinte bitterlich.
»Ich kann nicht weiter! Ich kann nicht weiter!«
Mein Bruder erwachte aus der Erstarrung seines Staunens; er hob sie auf, sprach ein paar freundliche Worte zu ihr und trug sie zu Fräulein Elphinstone. Sobald mein Bruder sie berührte, wurde sie ganz still, wie erschreckt.
»Ellen!«, schrie eine Frau im Haufen, mit Tränen in der Stimme. »Ellen!« Und das Kind machte sich von meinem Bruder los und schoss, nach ihrer Mutter rufend, davon.
»Sie kommen«, sagte ein Mann zu Pferd, der den Feldweg entlang ritt.
»Aus dem Weg da!«, brüllte ein Kutscher und richtete sich hoch auf; und mein Bruder sah einen geschlossenen Wagen in den Feldweg hereinfahren.
Die Leute drängten, einer den anderen pressend, zurück, um dem Pferd auszuweichen. Mein Bruder schob das Pony und den Wagen an die Hecke zurück, und der Mann fuhr vorbei, um an der Wegbiegung zu halten. Es war eine Kutsche, mit einer Deichsel für zwei Pferde, aber nur eines war in den Strängen.
Mein Bruder sah undeutlich durch den Staub hindurch, wie zwei Männer einen Gegenstand auf einer weißen Tragbahre heraushoben und ihn behutsam auf das Gras zwischen die Ligusterhecken legten.
Einer der Männer eilte auf meinen Bruder zu.
»Wo bekommt man hier etwas Wasser?«, fragte er. »Er geht rasch seinem Ende entgegen und leidet heftigen Durst. Es ist Lord Garrick.«
»Lord Garrick!«, rief mein Bruder, »Der Präsident des obersten Gerichtes?«
»Das Wasser!«, rief der andere.
»Vielleicht finden Sie in einem dieser Häuser eine Wasserleitung«, sagte mein Bruder. »Wir haben kein Wasser. Und ich darf meine Begleiterinnen nicht verlassen.«
Der Mann drängte sich durch die Menge gegen das Tor des Eckhauses zu.
»Vorwärts!«, riefen die Leute, ihn zur Seite schiebend. »Sie kommen! Vorwärts!«
Jetzt wurde die Aufmerksamkeit meines Bruders durch einen bärtigen Mann mit einem adlerartigen Gesicht abgelenkt, der eine kleine Handtasche trug, die gerade platzte, als meines Bruders Augen auf sie fielen, und eine Masse Sovereignstücke2 entleerte, die in einzelne Münzen zu zerfallen schien, als sie den Boden berührten. Sie rollten hierhin und dorthin unter die vorwärtsdrängenden Füße von Menschen und Pferden. Der Mann blieb stehen und stierte stumpfsinnig auf den Goldhaufen; die Deichsel eines Mietwagens traf seine Schulter und warf ihn nieder. Er stieß einen Schrei aus und kroch zur Seite; das Rad eines Karrens ging hart an ihm vorbei!
»Platz da!«, rief die Menge um ihm herum. »Macht Platz!«
Sobald der Mietwagen vorbeigefahren war, stürzte er sich mit beiden Händen auf die Goldhaufen und raffte eine Handvoll um die andere in seine Taschen. Ein Pferd bäumte sich dicht über ihm; als er sich im nächsten Augenblick halb aufgerichtet hatte, war er schon unter die Hufe des Pferdes geraten.
»Halt!«, schrie mein Bruder, und eine Frau zur Seite drängend, versuchte er, den Zaum des Pferdes zu fassen.
Ehe er noch herankommen konnte, hörte er ein Geschrei unter den Rädern und sah durch den Staub hindurch, wie die Vorderräder des Karrens über den Rücken des armen Teufels gingen. Der Kutscher des Karrens schlug mit der Peitsche nach meinem Bruder, der herum hinter den Karren eilte. Das vielstimmige Geschrei betäubte seine Ohren. Der Mann wand sich im Staub mitten unter seinem verstreuten Geld, unfähig sich zu erheben, denn die Räder hatten ihm den Rücken gebrochen und seine Beine lagen schlaff und tot da. Mein Bruder richtete sich auf und stieß einige gellende Rufe gegen den nächsten Kutscher aus; ein Mann auf einem Rappen kam zu seinem Beistand heran.
»Ziehen Sie ihn doch von der Straße weg«, sagte er; und mit seiner freien Hand den Mann am Kragen fassend, schleifte ihn mein Bruder zur Seite, der Mann aber griff noch immer gierig nach seinem Geld, blickte meinen Bruder wütend an und hämmerte mit einer Handvoll Gold fortwährend auf den Arm meines Bruders. »Vorwärts! Vorwärts!«, riefen zornige Stimmen von rückwärts. »Platz! Platz!«
Mit heftigem Krachen fuhr die Deichselstange einer Kutsche in den Karren hinein und der Reiter hielt an. Mein Bruder blickte auf, und der Mann mit dem Gold drehte seinen Kopf herum und biss in das Handgelenk meines Bruders, um seinen Kragen freizubekommen. Nun folgte ein Zusammenstoß, der Rappe stolperte zur Seite und das Karrenpferd drängte nach. Ein Huf verfehlte den Fuß meines Bruders um Haaresbreite. Er ließ den Kragen des gestürzten Mannes los und sprang zurück. Er sah noch, wie der Zorn in dem Gesicht des armen Teufels sich in Entsetzen verwandelte; der nächste Augenblick schon verbarg ihn seinen Blicken. Mein Bruder wurde nach rückwärts gedrängt und von der Menge an der Mündung des Feldweges vorbeigerissen; er hatte in der wild einherströmenden Menschenflut hart zu kämpfen, um die Mündung wieder zu gewinnen.
Er sah, wie Fräulein Elphinstone ihre Augen bedeckte, und wie ein kleines Kind, mit dem ganzen Mangel teilnahmsvoller Vorstellungskraft des Kindes, mit weitgeöffneten Augen auf ein staubbedecktes Etwas starrte, das schwarz und still, zermalmt und zerquetscht unter den rollenden Rädern lag. »Wir müssen zurück!«, schrie er und begann das Pony herumzuführen. »Wir können nicht hindurch durch diese — Hölle«, sagte er; und sie gingen etwa hundert Yard den Weg, den sie gekommen waren, zurück, bis die kämpfende Menge ihren Blicken entschwand. Als sie an die Wegkrümmung kamen, sah mein Bruder das Gesicht des sterbenden Mannes im Graben unter der Ligusterhecke; es war totenblass und verzerrt und glänzte vor Schweiß. Die beiden Frauen saßen schweigend da, in ihre Sitze gepresst und bebend vor Entsetzen.
Hinter der Wegbiegung machte mein Bruder wieder Halt. Fräulein Elphinstone war totenblass, und ihre Schwägerin saß still weinend da, zu elend sogar, um nach ihrem »George« zu rufen. Mein Bruder war entsetzt und verwirrt. Sobald sie sich zurückgezogen hatten, kam es ihm wieder zum Bewusstsein, wie dringend und unvermeidlich es war, den Menschenstrom zu durchqueren. Ohne Verzug wandte er sich entschlossen an Fräulein Elphinstone.
»Wir müssen diesen Weg einschlagen«, sagte er und lenkte das Pony wieder herum.
Zum zweiten Male an diesem Tag legte das Mädchen eine Probe seiner Unerschrockenheit ab. Um eine Furt durch diesen Menschenstrom zu erzwingen, stürzte sich mein Bruder in das Getriebe hinein und hielt ein Droschkenpferd zurück, während sie das Pony an dessen Kopf vorbeilenkte. In diesem Augenblick bremste ein Fuhrwagen und riss dabei einen langen Splitter vom Ponywagen ab. Gleich