H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells
der neben der Straße lief. Der Kurat blickte sich um, sah, was ich vorhatte und wandte sich nun, mir zu folgen.
Die zwei Marsmänner hatten Halt gemacht; der eine, der näher bei uns stand, blickte nach Sunbury, der andere, wie eine graue Nebelmasse gegen den Abendstern1 zu, stand abseits in Richtung Staines.
Das zeitweilige Geheul der Marsleute hatte aufgehört; in jenem riesigen Halbkreis mit ihren Zylindern als Mittelpunkt bezogen sie in vollkommenem Schweigen ihre Stellungen. Es war ein Halbmond, dessen Hornspitzen zwölf Meilen von einander entfernt waren. Wohl niemals seit der Erfindung des Schießpulvers hat eine Schlacht in solcher Stille begonnen. Wir sowohl wie ein zufälliger Beobachter von Ripley hätten genau denselben Eindruck gewonnen – die Marsleute schienen im unbestrittenen Besitz der hereinbrechenden Nacht nur von einem milden Mondlicht, den Sternen, dem Abglanz des scheidenden Tages, und dem rötlichen Schein auf dem St.-Georg’s-Hügel und in dem Gehölz von Painshill beleuchtet.
Aber gegen diesen Halbmond gerichtet, überall, in Staines, Hounslow, Ditton, Escher, Ockham, hinter Hügeln und Gehölz südlich vom Fluss, die ebenen, sich nach Norden ziehenden Graswiesen entlang, wo nur immer eine Gruppe von Bäumen oder Dorfhäusern genügende Deckung bot — standen die Geschütze in stummer Erwartung. Die Signalraketen fuhren auf, ergossen ihren Funkenregen in die Nacht und verschwanden. Und der Geist aller jener harrenden Batterien wuchs zur gespanntesten Erwartung. Die Marsleute brauchten nur bis in die Feuerlücke vorzurücken, und sofort würden jene regungslosen schwarzen Menschenmassen, jene Geschütze, die dunkel durch die frühe Nacht blitzten, in die donnergewaltige Wut eines wilden Kampfes ausbrechen.
Kein Zweifel, der eine Gedanke, der in tausenden jener wachsamen Köpfe alle anderen Gedanken beherrschte, und der auch in meinem Kopf jeden anderen Gedanken zurückdrängte, war die ungelöste Frage, in welchem Ausmaß sie uns wohl zu beurteilen verstanden. Erfassten sie, dass unsere Millionen ein organisiertes, diszipliniertes und funktionierendes Ganzes ergaben? Oder legten sie unsere Feuerzeichen, unser Bombenschleudern, unser hartnäckiges Bedrängen ihres Lagers etwa so aus, wie wir die wütende Einmütigkeit im Angriff eines gestörten Bienenschwarmes auslegen? Träumten sie davon, uns ausrotten zu können? (Damals wusste noch niemand, welcher Art Nahrung sie bedurften.) Hundert solcher Fragen kreuzten sich in meinem Geiste, als ich die riesigen Formen jener Wachposten beobachtete. Und im Hintergrund meiner Gedanken schlummerte noch die dunkle Empfindung aller jener unbekannten und verborgenen Gewalten, die sich in der Richtung nach London zu befinden mochten. Hatte man Grubenfallen angelegt? Hatte man die Pulvermühlen in Hounslow zur Falle fertig gemacht? Würden die Londoner Herz und Mut genug besitzen, um aus ihrem mächtigen Häuserbezirk ein größeres Moskau zu machen?
Da klang nach einer, wie uns schien, unermesslich langen Zeit, als wir durch das Buschwerk krochen und vorsichtig hinausspähten, ein Schall wie der ferne Donner eines Geschützes zu uns herüber. Da hob der Marsmann, der neben uns stand, sein Rohr hoch in die Luft und feuerte es ab wie ein Geschütz mit einem heftigen Knall, der die Erde erschüttern ließ. Der Marsmann, der bei Staines stand, folgte ihm. Kein Aufblitzen war zu sehen, kein Rauch, nichts als jenes schussartige Getöse.
Durch diesen, Notschüssen vergleichbaren, Lärm wurde ich derart erregt, dass ich meine persönliche Sicherheit und den Zustand meiner verbrühten Hände vergaß und mich mühsam in dem Gestrüpp aufrichtete, um gegen Sunbury hinblicken zu können. Während ich mich noch durchkämpfte, folgte noch ein zweiter Knall in meiner Nähe, und ein großes Geschoss sauste über mir Richtung Hounslow hin. Ich erwartete, wenigstens Rauch oder Feuer oder eine andere ähnliche Folge zu sehen. Aber alles, was ich sah, war der tiefblaue Himmel droben, auf dem ein einziger Stern schimmerte, und der weiße Nebel, der sich unten weit und tief ausbreitete. Auch kein Geschützdonner war zu hören gewesen, kein die Herausforderung beantwortendes Getöse. Die Ruhe war wieder hergestellt; aus einer Minute wurden drei.
»Was ist geschehen?«, fragte der Kurat, der neben mir sich erhoben hatte.
»Gott weiß es!«, erwiderte ich.
Eine Fledermaus huschte an uns vorbei und verschwand. Ein Geräusch wie von fernem Geschrei erhob sich und verstummte. Ich blickte wieder auf den Marsmann und sah, wie er nun in pfeilschneller Bewegung in östlicher Richtung das Flussufer entlangfuhr.
Jeden Augenblick erwartete ich, das Feuer einer verborgenen Batterie auf ihn losbrechen zu sehen. Doch die Ruhe des Abends blieb ungestört. Die Gestalt des Marsmannes wurde immer kleiner in der Entfernung, und bald hatten ihn der Nebel und die hereinbrechende Nacht verschlungen. Von einer gemeinsamen Eingebung bestimmt, kletterten wir höher hinauf. Gegen Sunbury zu erhob sich ein dunkler Gegenstand, so etwa, als hätte sich ein kegelförmiger Hügel plötzlich dort eingeschoben, der das weitere Land unseren Blicken verbarg. Jenseits des Flusses, fern oberhalb Waltons, sahen wir eine weitere solche Erhebung. Noch während wir sie anstarrten, schienen diese hügelartigen Körper sich zu senken und auszubreiten.
Von einem plötzlichen Gedanken bewegt, blickte ich nach Norden und sah, wie dort ein dritter dieser wolkigen schwarzen Kegel aufgetaucht war.
Alles war mit einem Male ganz still geworden. Fern im Südosten hörten wir die eulenartigen Schreie der Marsleute, durch die sie sich miteinander verständigten und durch die diese tiefe unheimliche Stille uns nur noch mehr zum Bewusstsein gebracht wurde. Dann wieder erbebte die Luft unter dem Donner ihrer Geschütze; aber keine irdische Artillerie gab Antwort.
Zu jener Zeit konnten wir alle diese Vorgänge nicht begreifen; später aber sollte ich die Bedeutung dieser unheimlichen Hügel, die sich in der Dämmerung bildeten, noch vestehen. Jeder einzelne der Marsleute, die sich in jener halbmondartigen Linie, die ich beschrieben habe, aufgestellt hatten, hatte auf ein unbekanntes Zeichen hin vermittels jenes geschützartigen Rohres, das er trug, einen ungeheuren Behälter überall dorthin abgefeuert, wo ein Hügel, eine Anhöhe, eine Häusergruppe, oder irgend eine Schutzwehr, hinter der er eine Batterie vermuten konnte, ihm ein Ziel geboten hatten. Manche feuerten nur eine jener Büchsen ab, manche, wie in dem Falle, den wir gesehen hatten, auch zwei. Der Marsmann vor Ripley soll nicht weniger als fünf Schüsse nacheinander abgegeben haben. Diese Büchsen barsten, wenn sie zur Erde fielen, explodierten aber nicht. Unverzüglich aber strömte