Frühere Verhältnisse. Katrin Unterreiner
Menage‹. Es gibt zahllose ›zweite Menagen‹ vom Kaiser herab bis zum wohlhabenden Gewerbetreibenden. Das Eigentümliche ist, daß die zweite Menage genauso aussieht wie die erste, nur etwas billiger: Hat die erste Menage vier Dienstleute, dann hat die zweite zwei und so weiter. Meistens gibt es in der zweiten Menage auch Kinder, und kein Mann empfindet sie als weniger verpflichtend als die erste.3
Also auch die Mitglieder des Kaiserhauses und des Adels pflegten diese Usancen, wie die »zweiten Menagen« Erzherzog Ottos mit Marie Schleinzer und Louise Robinson zeigen. Sogar der Kaiser selbst war davon nicht ausgenommen:
Manche Frauen der ersten Menage fördern die zweite geradezu. Mit Abenteuer, Verschwendung und Leichtsinn haben diese zweiten Menagen gar nichts zu tun – nicht einmal viel mit Erotik. Es soll zweite Menagen geben, die überhaupt nichts mit Erotik zu tun haben. Das behaupten viele, die etwas wissen sollten, zum Beispiel von der zweiten Menage des Kaisers.4
Was geschah nun, wenn diese Verbindungen – wie die Statistiken zeigen offensichtlich häufig – Folgen hatten und die Frauen schwanger wurden. Standen die Väter zu ihren heimlichen Geliebten und unehelichen Kindern?
Das Buch geht der Frage nach, wie heimliche Geliebte versorgt und mit außerehelichen Schwangerschaften im Kaiserhaus, in den Villen der Bürger und in den Dachkammern der Dienstmädchen verfahren wurde.
Bürgerliche Verhältnisse
Die so angestrengte Wahrung des Anstands sollte vor allem dem aufstrebenden Bürgertum eine von allen respektierte Stellung innerhalb der Gesellschaft garantieren. Der Lebensstil des Adels war unpassend für die bürgerliche Welt:
Den hohen Aristokratinnen ist jede Freiheit erlaubt: Sie dürfen so schäbig oder so kühn angezogen sein, wie sie wollen, sie dürfen sich laut schreiend unterhalten, die Füße übereinanderschlagen, dass man die halben Waden sieht, sich schminken, Verhältnisse haben. Wenn eine bürgerliche Frau solche Dinge tut, ist sie unmöglich und ist eine »Person«. Die Leute, die etwas auf sich halten verkehren nicht mit ihr und die Lieferanten nehmen sich Vertraulichkeiten heraus.5
Die Moralvorstellungen des städtischen Proletariats waren wiederum auf Grund der Lebensumstände gezwungener Maßen frei. Die Wohnverhältnisse innerhalb der Stadt, die das enge Beisammenwohnen mehrerer Generationen in einem Raum erzwangen, ergaben für die Kinder nicht nur freiwillig einen frühen Zugang zur Sexualität. Zum einen blieb nichts verborgen, zum anderen kam es oft zu sexuellen Übergriffen durch Erwachsene auf die Kinder, teils durch die eigenen Väter, teils durch die sogenannten Bettgeher, die gegen Geld einen Schlafplatz für die Nacht mieteten.
Die bürgerliche Welt musste also gegen den hemmungslosen Adel auf der einen Seite und das Proletariat, das roh und unbekümmert war, auf der anderen Seite abgegrenzt, Triebe und Leidenschaften daher möglichst im Verborgenen ausgelebt werden. »In diesem Zwiespalt erfand nun jene Zeit einen sonderbaren Kompromiss. Sie beschränkte ihre Moral darauf, dem jungen Menschen zwar nicht zu verbieten, seine Vita sexualis auszuüben, aber sie forderte, daß er diese peinliche Angelegenheit in irgendeiner unauffälligen Weise erledigte. War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also die stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte«6, beschrieb Stefan Zweig in seinen Lebenserinnerungen das Dilemma, in dem die Gesellschaft der k. u. k. Monarchie steckte.
Verschärft wurde das Problem durch den Umstand, dass der durchschnittliche bürgerliche Mann erst relativ spät eine Ehe eingehen konnte, da er ja bereits über ein beträchtliches Vermögen verfügen musste, um seiner Frau ein standesgemäßes Leben bieten zu können. Welch schwierige und teure Angelegenheit eine Heirat war, lässt sich vor allem bei Angehörigen des Militärs nachvollziehen, die eine hohe Kaution entweder als Rücklage zur Versorgung der Witwe, oder aber als Pension hinterlegen mussten. Erst mit steigendem Dienstgrad verringerte sich diese Kaution.
War man zu arm, um eine Ehe einzugehen, blieb die Möglichkeit eines eheähnlichen Verhältnisses:
Ein gebildeter, aber mittelloser Mann, der z. B. um der Prostitution oder sonstigen Unsitten zu entgehen, als Student heiraten und vielleicht mit seiner Frau in einem Zimmer und ohne weiteren Aufwand leben möchte, wird schwerlich ein gebildetes Mädchen finden, das sich dazu hergibt. Alles muss nach der herrschenden Mode und »standesgemäß« geschehen, sodaß die Ehe dadurch in den meisten Fällen unmöglich gemacht wird. Dennoch kann der gleiche Student im Konkubinat leben, weil bei diesem Verhältnis die genannten Vereinfachungen zulässig sind. Warum können aber dieselben Existenzmittel, die zu einem Konkubinat reichen, für eine Ehe unmöglich genügen?7
Diese Notlösung war zwar gelebte Praxis, wurde offiziell aber von der bürgerlichen Moral strikt abgelehnt. Man ging sogar mit allen zu Verfügung stehenden Mittel dagegen vor. Als 1867 Theodor Weiß von Starkenfels die Polizeidienststelle in Wien übernahm, begann die Sittenpolizei nicht nur gegen die Prostitution besonders streng vorzugehen, sondern auch gegen das Konkubinat. Bezirksdirektionen gingen gegen Paare vor, die ohne Trauung zusammenlebten. Ausländer wurden ausgewiesen, Paare, die gemeinsame Kinder hatten, getrennt.8
War eine Ehe nach Erfüllung aller geforderten Voraussetzungen – dies bedeutete für den Mann ein geregeltes, angemessenes Einkommen und eine gewisse gesellschaftliche Stellung, für die Frau einen makellosen Ruf und selbstverständlich Unberührtheit – endlich doch geschlossen, blieb auch hier fern der Öffentlichkeit kein Platz für Unmäßigkeit. Vor allem den Frauen wurde dies deutlich gemacht: Die »ehelichen Pflichten … dienen dem sittlichen Zweck der Fortpflanzung. Keinesfalls dürfen sie den Vorwand für geschlechtliche Unmäßigkeit abgeben. Daraus ergibt sich die Frage, wie oft der Geschlechtsgenuß erlaubt ist, ohne Schaden zu stiften. Durchschnittlich soll der Akt nicht öfter als einmal in der Woche ausgeübt werden.«9
Ein zusätzliches Problem war, dass Ehen in bürgerlichen Kreisen nicht aus Liebe geschlossen wurden: »… äußere Verhältnisse, materielle Momente, Nützlichkeitsgedanken … stehen im Vordergrund. Die Mehrzahl der Ehen der Gegenwart sind nicht Liebesheiraten oder Zuneigungsheiraten, sondern Konvenienzehen.« In den meisten Fällen erkoren die Eltern einen passenden Heiratskandidaten für ihre bis dahin streng unter Verschluss gehaltenen Töchter, die sich in ihr Schicksal zu fügen hatten.
Theodor Fontane zeichnete dies im Schicksal Effi Briests, die aus gesellschaftlichem Ehrgeiz eine Vernunftehe mit einem zwanzig Jahre älteren Baron eingeht, literarisch nach. Aus Langeweile und weil sie sich von ihrem Mann vernachlässigt fühlt, geht Effi ein Verhältnis mit dem charmanten, lebenslustigen Frauenheld Major von Crampas ein: »Weil ihr, wenn auch unklar, dabei zum Bewusstsein kam, was ihr in ihrer Ehe eigentlich fehlt: Huldigungen, Anregungen, kleine Aufmerksamkeiten. Instetten war lieb und gut, aber ein Liebhaber war er nicht.«10
Das Ergebnis all dieser Restriktionen und Hürden die zu überwinden waren, um eine Ehe mit einem oft ungeliebten Partner einzugehen, waren mehr oder weniger öffentlich gelebte voreheliche und außereheliche Verhältnisse. Tatsächlich gab es zahlreiche Möglichkeiten unverbindliche Verhältnisse einzugehen:
Den Frauenhelden, die ihr Gewissen gut im Griff hatten, verschaffte ein Verhältnis mit dem – wie Schnitzler es die Wiener lehrte – »süßen Mädel« unbelastete Wonnen, die zu nichts verpflichteten. Ein bisschen gut berechnetes Liebesgeflüster, hin und wieder ein Abendessen in einem der gerade beliebten Restaurants oder ein Wochenende auf dem Lande: Das empfanden junge, lebenshungrige Frauen schon als adäquaten Lohn für die von ihnen gewährte Gunst.11
Dass das Eingehen eines derartigen Verhältnisses von Seiten der aus einfachsten Verhältnissen stammenden Frauen nicht nur dem Lebenshunger entsprang, sondern sehr wohl der Hoffnung nach finanzieller oder gesellschaftlicher Besserstellung, versteht sich angesichts ihrer kümmerlichen Lebensumstände wohl von selbst. Schnitzler, als homme de femmes bekannt, ging selbst eine seiner zahlreichen Liebschaften