Auferstehung. Лев Толстой
Notwendigkeit, seinen Entschluß noch hinauszuschieben, machte ihm Vergnügen.
»An all' das werde ich später denken,« sagte er sich wieder, während sein Wagen geräuschlos über den Asphalt des Hofes des Justizgebäudes rollte. »Es handelt sich jetzt für mich darum, eine soziale Pflicht mit der mir eigenen Sorgfalt zu erfüllen. Außerdem sind diese Sitzungen auch oft sehr interessant.«
Viertes Kapitel
Als Nechludoff das Gerichtsgebäude betrat, ging es auf den Korridoren schon sehr lebhaft zu. Aufseher liefen mit Papieren hin und her; andere gingen mit ernstem, langsamem Schritte, die Hände auf dem Rücken, auf und nieder. Die Nuntien, die Advokaten, die Anwälte spazierten hin und her, die Bittsteller und die auf freien Fuß belassenen Angeklagten drückten sich demütig an die Wand oder blieben wartend auf den Bänken sitzen.
»Das Bezirksgericht?« fragte Nechludoff einen der Aufseher.
»Was für eins? Kriminal oder Zivil?«
»Ich bin Geschworener!«
»Dann handelt es sich um das Schwurgericht! Das hätten Sie gleich sagen sollen! Gehen Sie nach rechts und dann links die zweite Thür!«
Nechludoff trat in die Korridore.
Vor der Thür, die der Aufseher ihm bezeichnet hatte, standen zwei Männer in eifriger Unterhaltung begriffen. Der eine war ein dicker Kaufmann, der jedenfalls als Vorbereitung auf seine Aufgabe tüchtig gegessen und getrunken hatte; denn er schien in sehr lustiger Gemütsverfassung; der andere war ein Kommis jüdischer Herkunft. Die beiden Männer unterhielten sich von den Wollpreisen, als Nechludoff auf sie zutrat und sie fragte, ob sich hier die Geschworenen versammelten.
»Ja, hier, mein Herr; ganz recht hier! Sie sind jedenfalls auch ein Geschworener, einer unserer Kollegen?« fügte der brave Kaufmann lächelnd und augenblinzelnd hinzu.
»Na, dann werden wir zusammen arbeiten,« fügte, er auf Nechludoffs bejahende Antwort hinzu. – »Baklaschoff von der zweiten Gilde,« sagte er, dem Fürsten seine breite Hand reichend. »Und mit wem habe ich die Ehre?«
Nechludoff nannte seinen Namen und trat in das Geschworenenzimmer.
»Sein Vater war beim Kaiser attachiert,« murmelte der Jude.
»Er hat Vermögen?« fragte der Kaufmann.
»Ein schwerreicher Mann!«
In dem kleinen Geschworenenzimmer waren zehn Männer aus allen Lebensstellungen versammelt. Alle waren eben erst gekommen; die einen saßen, die andern gingen auf und ab. Man betrachtete sich und knüpfte Bekanntschaft an. Da war ein pensionierter Oberst in Uniform, andere Geschworene waren im Gehrock, im Jacket; ein einziger hatte seinen Frack angezogen. Mehrere von ihnen hatten ihre Geschäfte im Stich lassen müssen, um ihre Geschworenenpflicht auszuüben, und beschwerten sich bitter darüber; dabei las man aber doch auf ihren Gesichtern eine stolze Genugthuung und das Bewußtsein, eine hohe soziale Pflicht zu erfüllen.
Als die erste Prüfung beendet war, war man in einfachen Gruppen zusammengetreten. Man unterhielt sich vom Wetter, von dem frühzeitigen Anbruch des Frühlings und den zur Verhandlung kommenden Fällen. Eine große Anzahl von Geschworenen drängte sich danach, mit dem Fürsten Nechludoff Bekanntschaft zu machen, denn sie waren augenscheinlich der Meinung, er wäre ein hervorragender Mensch. Nechludoff fand das berechtigt und natürlich, wie er es stets bei solchem Anlaß that. Hätte man ihn gefragt, warum er sich der Mehrzahl der Menschen überlegen betrachtete, er wäre außer stande gewesen, darauf zu antworten, denn sein Leben hatte in der letzten Zeit namentlich nichts sehr Verdienstliches aufzuweisen gehabt. Er konnte allerdings fließend englisch, französisch und deutsch sprechen; seine Wäsche, sein Anzug, seine Kravatten, seine Manschettenknöpfe kamen stets aus den ersten Geschäften, und waren stets die teuersten, die es gab; doch er selbst behauptete nicht, daß das genügend war, um sich als ein höheres Wesen aufzuspielen. Und doch war er von dem Bewußtsein seiner Bedeutung tief erfüllt; er war überzeugt, daß man ihm die Hochachtung, die man ihm entgegenbrachte, schuldig war, und die Vernachlässigung derselben verletzte ihn wie eine Schmach.
Eine Schmach dieser Art erwartete ihn gerade im Geschworenenzimmer. Unter den Geschworenen befand sich jemand, den er kannte, ein gewisser Peter Gerassimowitsch – seinen Familiennamen hatte Nechludoff nie erfahren – der bei den Kindern seiner Schwester Hauslehrer gewesen war. Dieser Peter Gerassimowitsch hatte inzwischen seine Studien beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Nechludoff hatte ihn wegen seiner Vertraulichkeit, seines selbstgefälligen Lächelns und seiner schlechten Manieren stets unausstehlich gefunden.
»Ach, das Los hat Sie also auch getroffen?« sagte er zu Nechludoff und trat mit lautem Lachen auf ihn zu. »Und Sie haben sich nicht dispensieren lassen?«
»Nie hatte ich die Absicht, mich dispensieren zu lassen,« versetzte Nechludoff trocken.
»Na, das ist ein schöner Zug bürgerlichen Mutes. Sie werden sehen, wie Sie unter dem Hunger leiden werden! Und dabei kann man weder schlafen noch trinken!« fuhr der Professor, noch lauter lachend, fort.
»Dieser Popensohn wird bald anfangen, mich zu duzen!« dachte Nechludoff, gab seinem Gesicht einen so düstern Ausdruck, als hätte er eben den Tod eines seiner Verwandten erfahren, und drehte Peter Gerassamowitsch den Rücken, um sich einer Gruppe zu nähern, die sich um einen hochgewachsenen, glattrasierten, vornehm repräsentierenden Mann gebildet hatte, der etwas zu erzählen schien. Dieser Mann sprach von einem Prozeß, der eben vor dem Zivilgericht verhandelt wurde; er sprach davon, wie ein Mann, der die Sache von Grund aus kennt, und nannte die Richter und Advokaten bei ihren Vornamen. Er erzählte unermüdlich, wie ein berühmter Advokat aus St. Petersburg, der Sache eine ganz andere Wendung gegeben, und eine alte Dame, die vollständig recht hatte, infolge seiner Thätigkeit nunmehr sicher verlieren mußte.
»Ein genialer Mensch!« rief er, als er von dem Advokaten sprach.
Man hörte ihm aufmerksam zu; und einzelne der Geschworenen versuchten, ihre Bemerkungen anzubringen, doch er unterbrach sie sofort, als wüßte nur er genau, wie es damit stände.
Obwohl Nechludoff verspätet ins Gerichtsgebäude gekommen war, mußte er noch sehr lange in dem Geschworenenzimmer bleiben. Eins der Mitglieder des Tribunals war nicht gekommen, und man wartete auf dasselbe, um die Sitzung zu eröffnen.
Der Präsident des Schwurgerichts war dagegen sehr frühzeitig in den Palast gekommen. Dieser Präsident war ein großer, dicker Mann mit langem, grauem Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr ausschweifendes Leben, und seine Frau that dasselbe; sie hatten das Prinzip, sich gegenseitig nicht hinderlich zu sein. Am Morgen dieses Tages hatte der Präsident ein Billet von einer Schweizer Gouvernante erhalten, die früher bei ihm gewohnt hatte und auf der Durchreise nach St. Petersburg ihm schrieb, daß sie ihn zwischen drei und sechs Uhr im Hotel d'Italie erwarten würde. Daher hatte er es eilig, die Tagessitzung so schnell wie möglich anfangen und schließen zu können, um gegen sechs Uhr, zu dieser rothaarigen Klara zu eilen, mit der er im vorigen Sommer einen Roman angesponnen.
Er ging in sein Kabinet, verriegelte die Thür und nahm aus der Schublade eines Schrankes zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Bewegungen nach vorn, nach hinten, nach der Seite, nach oben und nach unten machte; dann beugte er dreimal die Kniee und hob die Hanteln über den Kopf.
»Nichts stärkt so sehr als die Hydrotherapie und die Gymnastik,« dachte er und fühlte mit der linken Hand, an der ein goldener Ring glänzte, nach dem Gelenk des rechten Armes. Er wollte eben wieder rollende Bewegungen machen – er hatte sich gewöhnt, diese beiden Hebungen stets vor den etwas langen Sitzungen zu machen,