Die Hauptstadt des Sex. Michaela Lindinger
die Stimmung der Zeit auf den Punkt: »Im Angesicht solcher Not und solchen Elends brach aller Respekt vor den Gesetzen Gottes und der Menschen (…) zusammen.«
Die Brandreden der Prediger, die die Inhaber verfaulender Leiber zur Rettung ihrer Seele aufriefen, fanden immer weniger Gehör. Viele zogen es vor, ihren Körper zu feiern, solange es noch ging. Das Morgen ist ungewiss – carpe diem! Wer es sich leisten konnte, gab sich dem Überfluss hin. Adelige und reiche Kaufleute trugen aufwendige Garderoben, veranstalteten Gelage und frönten dem Tanzvergnügen. Zum Beispiel an den Wiener Tuchlauben.
In dieser sehr alten Straße befand sich ein mittelalterlicher Tanzsaal, ausgeschmückt mit zahlreichen zweideutigen Bildmotiven. Man entdeckte den Raum erst 1979, als eine Wohnung im Haus mit der heutigen Nummer 19 umgebaut wurde. Was zum Vorschein kam, ist für Wien sensationell und einzigartig: Die Szenerien an den Wänden gehen zurück auf die Lieder des bekanntesten deutschsprachigen Sängers des Mittelalters – Neidhart von Reuental, der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte.
Man kann ihn mit den Popstars von heute vergleichen. Zarte Poesie beherrschte er genauso wie derbe Direktheit. Seine Beliebtheit war enorm, und nach seinem Tod nannten sich viele Epigonen, die seine Dichtungen weiterhin vortrugen, ebenfalls Neidhart. Im 16. Jahrhundert wurde der »Liedermacher« sogar sprichwörtlich. Mit »nithart« bezeichnete man zu dieser Zeit einen Grobian.
Neidhart war schon über 150 Jahre tot, als der reiche Wiener Textilhändler und Ratsherr Michel Menschein seinen repräsentativen Festsaal mit den Neidhart-Motiven schmücken ließ. Zweifellos hat jeder seiner Gäste die farbenprächtigen Geschichten im ersten Stock – der »bel étage« – sogleich erkannt und den Hausherrn zu seinem Reichtum und seinem guten Geschmack beglückwünscht.
In den Bildern geht es um die Fruchtbarkeit. Für unsere Vorfahren war die Beobachtung des Himmels und die damit verbundene Abfolge der Jahreszeiten die Grundlage allen Lebens. Man feierte den Beginn des Frühlings, die Sonnenwenden, das Fest der Toten, das immer mit Licht verbunden war, und die ersten länger werdenden Tage mit großen Umzügen und Tänzen. Die Christen haben die meisten dieser Feiern übernommen: Ostern und Weihnachten weisen mit ihren alten Volksbräuchen wie dem Eiersuchen und dem immergrünen Nadelbaum auf die jahrtausendealten Traditionen hin. Auch die größte Katastrophe ihrer Epoche, die Pest, führten die Gelehrten des Mittelalters auf die Planeten und deren gelegentlich unheilvolle Konstellationen zurück.
Der Tod hatte die Welt beherrscht: Doch nun, Anfang des 15. Jahrhunderts, schien die Gefahr fürs Erste vorbei. In den Neidhart-Fresken, die um 1407 entstanden sind, begegnen wir dem Ablauf der Jahreszeiten. Den Meister, der den Zyklus geschaffen hat, kennen wir nicht. Es dürfte sich um einen in Wien ansässigen prominenten Künstler gehandelt haben, da Hausherr Menschein vermutlich weder einen durchziehenden Wandermaler noch einen Unbekannten ohne besondere Qualifikationen mit diesem Auftrag betraut hätte.
Der Ballsaal maß etwa 15 mal 7,5 Meter und wurde über eine hölzerne Stiege betreten. Man sah eine durchgehende Landschaftskulisse vor dem um 1400 charakteristischen schwarzen Hintergrund, der die bunten Farben umso prägnanter hervortreten ließ. Die verschiedenen Jahreszeiten sind in den Landschaftsdarstellungen festgehalten. Vor allem der Frühling – die wichtigste Jahreszeit, in der das Leben neu beginnt – war dem Maler ein Anliegen. Die Szenen folgen den deftigen Liedern und Schwänken des Neidhart. Dem Ablauf des Jahreskreises sind bestimmte Vergnügungen vermögender Leute wie Schlittenfahrt oder Ballspiel zugeordnet. Frühling und Herbst stehen Sommer und Winter gegenüber, eine Anordnung, die an die Sommer- und Winterlieder in Neidharts Schaffen erinnert. Die Sphäre des Erotischen ließ in diesem Zusammenhang schon Sprachwissenschafter zu Zensoren werden.
Beim Ballspiel sieht man ein sich küssendes Liebespaar. In der Szene davor hat eine Dame ihren Ball einem Herrn zugeworfen. Als Nächstes sieht man eine liegende Frau und einen Mann, der sich über sie beugt. Die linke Hand des recht zudringlich dargestellten Herrn macht eine eindeutige Geste, die sich auf ein Lied des Neidhart bezieht:
Ach, dass ich nun soll
Selber meine Schande rügen!
Ihr, die meiner Augen Wonne, griff er an die
Scham!
Blöder Hund (…).
Der unmissverständliche Griff des Mannes wurde von Neidhart als »bäurisch« und »tölpelhaft« angeprangert. Mit der alten aristokratischen Minne habe dies nichts zu tun, kritisierte der Sänger, was im nächsten Bild noch deutlicher wird. Hier erkennt man den »Spiegelraub«. Ein Spiegel gehörte zu den Besitztümern adeliger Damen und wurde als Zeichen höfischer Freude dargestellt. Damals verstand man dieses typische weibliche Accessoire auch als Symbol der Jungfräulichkeit:
Oberhalb ihres Meien
riß er Friderun den Spiegel weg.
Oder:
Ich habe es gesehen,
wie er ihr den Spiegel weggerissen hat.
Tochter, da: tender, lender, lenderlein!
Für die Jahreszeit Sommer ist also wohl ein Handlungsablauf dargestellt: Das Mädchen zeigt dem Ritter seine Gunst, indem sie ihm einen Ball zuwirft. Es folgen Kuss und Sex.
Im Winter geht es mit einer Schlittenfahrt weiter. Im Schlitten erkennt man drei Figuren mit bedecktem Kopf:
Weiber waren stets noch sicher an dem Kopf,
den riß noch keiner ihnen ab.
Geschah was sonstwo, haben sie’s
auch noch überlebt.
Winterliche Ausfahrten in auf Kufen gezogenen Kästen sind für das mittelalterliche Wien belegt. Somit ist die Darstellung auch eine Selbstrepräsentation des Wiener Stadtpatriziats.
Die damals wie heute populärste Geschichte der Neidhart-Überlieferung ist dem Frühling zugeordnet: der Veilchenschwank. Neidhart hat das erste Veilchen des Frühjahrs gefunden. Er bedeckt es mit seinem Hut, damit er es später wieder finden kann. Er will nämlich einem alten Brauch folgend die Herzogin (!) und ihr Gefolge zur Fundstelle führen, damit die hohe Frau das Veilchen pflücken kann: Als Zeichen für viele Nachkommen und ein langes Leben. Leider hat in der Zwischenzeit einer der wiederholt vorkommenden tölpelhaften Dörfler dem Neidhart einen Streich gespielt:
Neidhart, sollst hier von mir wissen,
dass ich das Veilchen hab beschissen (…)
Die Frühlingslandschaft wird durch die zartgrüne Farbgebung und einige rote Blumen in der Wiese dargestellt. Ein Mann hat seine Arme entsetzt hochgereckt, er ist derjenige, der die fäkalische Untat entdeckt hat. Rechts von ihm sieht man eine größere Fehlstelle: dort muss man sich den Sch…haufen und die empörte Herzogin vorstellen.
Danach bietet sich dem Betrachter die älteste Wiener Tanzund Musikszene überhaupt: Ein erhöht stehender Schalmeienspieler folgt einigen Händchen haltenden Paaren, die einen Rundtanz aufführen. Ein Vortänzer trägt einen Tanzstab, wohl einen blühenden Zweig, der wiederum auf die Fruchtbarkeit der jungen Paare hinweisen soll. Heute ist der Ursprung des Tanzes ein wenig in Vergessenheit geraten, aber die feiernden Gäste des Herrn Menschein verstanden die Botschaft an der Wand ohne weitere Erklärungen.
Der deutsche Schriftsteller Eduard Fuchs fasste die Bedeutung des Tanzes einmal so zusammen: »Der Tanz war und ist niemals etwas anderes als in stilisierte Rhythmik umgesetzte Erotik: Buhlen, Werben, Weigern, Versprechen und Erfüllen.« Bereits die frühen Menschen sahen im Tanz einen starken Ausdruck sexueller Hingabe, nicht nur ein erotisches Vorspiel, sondern eine Art Liebesunterweisung durch pantomimische Darbietungen.
Tugendhaftigkeit, Ehrbarkeit, Schamhaftigkeit – Attribute, wie sie christliche Autoritäten den Frauen des Mittelalters zuzuschreiben gedachten, waren im Ballsaal nicht gefragt. Hier ging es um das sinnliche Ausleben der Sexualität, was offiziell nur den Männern zugestanden wurde und auch diesen nur im Umgang mit Prostituierten. In einer »anständigen« ehelichen Beziehung hatte Erotik nichts zu suchen. Sex diente einzig und allein der notwendigen Zeugung von Nachwuchs.
Mönche verfassten