Kaiserliche Kindheit. Gabriele Praschl-Bichler
Daraufhin nahmen die Bemerkungen darüber im Tagebuch Carl Ludwigs ab, weshalb die Sensation des Tages dem ersten Ritt auf einem Pferd namens Urika galt.
Der Besuch des kleinen Bruders Ludwig Victor während seines Frühstücks ist einer der vielen Hinweise darauf, daß die Bewohner der verschiedenen Appartements (die drei älteren Brüder Franz Joseph, Ferdinand Maximilian und Carl Ludwig, die Eltern, Erzherzogin Sophie und Erzherzog Franz Carl, der kleine Ludwig Victor, das Kaiserpaar usf.) das Morgenmahl getrennt einnahmen. Zu Mittag aßen die Kinder gemeinsam mit ihren Eltern, worauf ein langes, familiäres Zusammensein folgte.
Mittwoch
17. Heute sind wir mit dem Papa, der Mama und dem kleinen Ludwig in dem Prater zusammengekommen. Abends bin ich allein.
Wegen der Ansteckungsgefahr waren die gemeinsamen Zusammenkünfte der Eltern mit den drei gesunden Brüdern noch immer auf die Praterspaziergänge beschränkt. Der Hinweis auf das abendliche Alleinsein bezog sich ebenfalls auf die Trennung von den Eltern, bedeutete aber ›allein mit einem der Erzieher‹. Sie teilten – vor allem zum Schutz ihrer Zöglinge – das Appartement mit ihnen. Das Abendprogramm mit dem Erzieher oder mit den Eltern war auf das Alter der Kinder abgestimmt. In dieser Epoche wurden meist Geschichten vorgelesen oder andere Unterhaltung gepflogen.
Donnerstag
18. Der Albert, die Marie, der Onkel Carl und der Stephan sind heute angekommen. Wir sind geritten. Der Wittek war Abends allein bei uns.
Mit Albert und Marie sind – streng genommen – ein Onkel und eine Tante zweiten Grades gemeint, die an diesem Tag mit ihrem Vater, Erzherzog Carl (dem ersten Bezwinger Napoleons), – von wo immer – in Wien ankamen. Stephan war ein Neffe Erzherzog Carls, der spätere Palatin von Ungarn.
J. Wittek zählte zu den Erziehern der jungen Erzherzoge. Er unterrichtete Böhmisch (Tschechisch) und war vermutlich ein Verwandter – vielleicht sogar der Vater – Heinrich Ritters von Wittek, des späteren Ministerpräsidenten.
Freitag
19. Heute ist der Geburtstag des Kaisers. Deßwegen ist große Parade; wir waren bei ihm, um zu gratuliren. Der Palatino ist angekommen. Dem Franzi geht es besser. Der Graf Coronini ist angekommen. Heute Abends sind die Bombelles gekommen.
Der Kaiser, dessen 41. Geburtstag man feierte, war Ferdinand I., ein direkter Onkel Carl Ludwigs. Mit dem ›Palatino‹ ist Erzherzog Josef, ein Großonkel, gemeint, der zu diesem Zeitpunkt die Würde des Palatins von Ungarn innehatte und der – wie einen Tag vorher die Familie Erzherzog Carls – vermutlich auch wegen der Geburtstagsfeierlichkeiten zu Ehren des Kaisers angereist war.
Graf Johann Baptist Coronini-Cronberg war einer der Kammerherren Erzherzog Franz Carls und Erzieher der jungen Erzherzoge, der hauptsächlich dem ältesten Sohn, Franz Joseph, zugeteilt war.
Das abendliche Kommen der Brüder Bombelles bedeutete Spiel und Unterhaltung.
Samstag
20. Heute sind wir geritten und haben Visite gemacht. Abends war die Großmama mit der Amie bei uns.
»Visitemachen« gehörte zu den gesellschaftlichen Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts. Ohne sich anzumelden, schaute man bei Bekannten vorbei, um ihnen einen Kurzbesuch abzustatten. Er verlangte dem Besuchten einen Gegenbesuch ab. War er nicht anzutreffen, so hinterließ man die Visitenkarte, die ebenso zum Gegenbesuch verpflichtete.
Beliebte Gesellschafterinnen der jungen Erzherzoge waren die ›Großmama‹ und die ›Amie‹ (ihre ›Freundin‹). Kaiserin Caroline Auguste war eine geborene Prinzessin von Bayern, vierte Ehefrau und Witwe nach Kaiser Franz II./I. Als solche rangierte sie als Großmutter. Da sie aber auch Halbschwester Erzherzogin Sophies, der Mutter Carl Ludwigs, war, stand ihr ebenso die Ansprache ›Tante‹ zu. Erzherzog Franz Joseph hatte für sie den Titel einer Großmutter-Tante entworfen. Ihre ›Freundin‹, Hofdame und Sternkreuzordensdame Baronin Luise Sturmfeder, hatte ursprünglich die Stellung einer Aja (einer Leiterin aller Gefolgsleute der jungen Erzherzoge) bei Franz Joseph und Ferdinand Maximilian inne. Als die beiden das Schulalter erreichten und männliche Erzieher bekamen, wurde sie als Hofdame in das Gefolge Kaiserin Caroline Augustes übernommen. Sie hielt aber mit den jungen Erzherzogen weiter innigen Kontakt, wie auch der folgenden Eintragung zu entnehmen ist.
Sonntag
21. Die Amie hat bei uns gespeist. Vor dem Essen sind wir mit der Mama ausgegangen.
›… bei uns gespeist‹ meint in den Appartements der Kinder, wo während der Krankheit Franz Josephs gegessen wurde und nicht – wie üblich – in den Räumen der Eltern.
Montag
22. Heute sind wir mit der Mama und mit dem kleinen Ludwig in den Prater gegangen. Der Baron Gorizzutti ist zu uns gekommen, der Charli (der junge Graf Bombelles) war Abends bei uns.
Dienstag
23. Wir sahen heute den kleinen Ludwig im Prater. Ich war Abends allein (mit dem Erzieher). Dem Franzi ging es besser.
Mittwoch
24. Heute fing die neue Tagesordnung an. Wir sind mit der Mama im Pratergarten spazieren. Den kleinen Ludwig haben wir (dort) gesehen. Abends war die Großmama mit der Amie bei uns.
Einen Einschnitt im Lern- und Erziehungsprogramm der jungen Erzherzoge bildete die zweimal jährlich wechselnde ›Tagesordnung‹ (im Frühling und im Herbst). Sie bedeutete – wie früher erwähnt – in den wärmeren Monaten verstärkten Unterricht im Freien und längeres Zusammensein mit den Eltern.
Donnerstag
25. Mittags sind wir in der Stadt herumgegangen. Heute ist der Namenstag des Marko (junger Graf Bombelles). Abends bin ich (mit dem Erzieher) allein gewesen (was sich wegen des Scharlachs Franz Josephs noch immer auf die ungewöhnliche Gestaltung der Abendstunden Carl Ludwigs bezieht, die er gewöhnlich beim Spiel mit den Brüdern zubrachte).
Freitag
26. Heute Mittags sind wir in den Augarten gefahren. Nachmittag sind wir mit der Mama in den Prater gegangen. Abends sind die (Spielkameraden) Bombelles gekommen.
Der Augarten und sein Palais (nahe der Inneren Stadt zwischen Donau und Donaukanal gelegen) war wie das ehemalige Jagdrevier im Prater ebenfalls habsburgischer Besitz gewesen. Aber auch ein Großteil dieses Parks war im Jahr 1775 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.
Samstag
27. Wir fuhren Mittags zum Erzherzog Ferdinand; er war aber nicht zu Hause. Dann sind wir in den Schwarzenbergischen Garten gegangen. Nachmittags sind wir in den Kaisergarten gegangen. Abends kam die Großmama (Kaiserin Caroline Auguste) mit ihrer neuen Hofdame, der Gräfin (Ludovica) Praschma zu uns (vermutlich um sie vorzustellen und einzuführen).
Mit Erzherzog Ferdinand ist ein weitschichtiger Großonkel aus der Linie der Herzoge von Modena gemeint. Er wird sich im – heute im dritten Wiener Gemeindebezirk gelegenen – Familienpalais aufgehalten haben. Das Gebäude fiel eines Tages – wie etliche andere historische Bauten Wiens – einer Beamtenlaune zum Opfer und wurde noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs dem Erdboden gleichgemacht. Die Herzoge von Modena aus dem Haus Habsburg-Lothringen besaßen aber noch ein Palais in Hofburgnähe (das Gebäude des heutigen Innenministeriums in der Herrengasse). Vermutlich diente das Palais im dritten Bezirk als Sommersitz und das im Zentrum gelegene als Winterresidenz.
Einige Gehminuten vom ehemaligen Palais Modena entfernt befindet sich (auch heute noch) das barocke Gartenpalais Schwarzenberg mit seinem Park. Dorthin wechselten die Spaziergänger, nachdem Erzherzog Ferdinand nicht daheim anzutreffen war. Mit dem später besuchten Kaisergarten ist der Park rund um das ehemalige, ebenfalls im dritten Bezirk gelegene, Gartenpalais Harrach gemeint, das anläßlich der folgenden Eintragung genauer besprochen wird.