Franzosenkind. Eduard Spörk
Es musste über ihre Aufteilung in Mannschaftslager, Offizierslager (mancherorts zusätzlich getrennt in Luft- und Marine-Lager), Durchgangslager, Straflager, Heimkehrerlager und über ihren Einsatz in der Industrie, insbesondere in der Rüstungsindustrie, in der Landwirtschaft und im Bergbau entschieden werden. Die Kriegsgefangenen-Bau- und -Arbeitsbataillone bekamen eine eigene Organisationsstruktur.
Ausgehend von der Haager Landkriegsordnung von 1899 wurden, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, 1929 in der Zweiten Genfer Konvention die Grundsätze zur einheitlichen Behandlung von Kriegsgefangenen festgelegt. Die unterzeichnenden Länder wie Frankreich, USA, Großbritannien, China, Indien und das Deutsche Reich regelten darin Mindestanforderungen an die Ausstattung von Kriegsgefangenenlagern, an die Versorgung der Gefangenen mit Nahrung, Medizin, Kleidung und den Standard der sanitären Anlagen. Sie legten unter anderem fest, dass Kriegsgefangene nicht in der Rüstungsindustrie und beim Rüstungstransport eingesetzt werden durften und bei bestimmten Arbeiten am Ende der Gefangenschaft entlohnt werden sollten.
Das war die Theorie, die mit der Praxis nicht viel zu tun hatte. Prinzipiell gab es im Deutschen Reich keine Gleichbehandlung der Kriegsgefangenen, sondern sie wurden nach ihrer Nationalität und den Maßstäben der Rassenideologie des Nazi-Regimes eingestuft. Die Einstellung der Lagerkommandantur und der Wachmannschaften spielte eine wichtige Rolle: so wurde in einzelnen Lagern der „Ostmark“ tendenziell zurückhaltender als im „Altreich“ agiert. Der Transport der Kriegsgefangenen in offenen Viehwaggons, in denen sie Krankheiten und im Winter Erfrierungen ausgesetzt waren, ihre Unterbringung in Baracken oder im Freien, teilweise ohne Bekleidung und Schuhe, gipfelte in der äußerst ungleichen Versorgung mit Essen. Den sowjetischen Gefangenen, in der nationalsozialistischen Propaganda als „Untermenschen“ bezeichnet, stand nur Unmenschliches zu. Ihnen galt kein minimaler Schutz durch die Genfer Konvention, da die Sowjetunion dem Abkommen nicht beigetreten war. Der Tod dieser Menschen wurde in Kauf genommen oder beschleunigt. Polnischen und später auch italienischen Soldaten wurde gänzlich der Status von Kriegsgefangenen verwehrt. Vergleichsweise weniger Tote in den deutschen Lagern mussten die alliierten Armeen verzeichnen, wobei auch hier regional Unterschiede gemacht wurden.
Die Entscheidung, Gefangene in der Industrie und in der Landwirtschaft einzusetzen, resultierte aus dem Mangel an Arbeitskräften im Deutschen Reich. Keiner der auf den Schlachtfeldern Kämpfenden konnte gleichzeitig Munition produzieren oder das Getreide säen.
Anders als bei vielen der norwegischen, belgischen, niederländischen und griechischen Soldaten, die nach dem Ende der Kämpfe bald freigelassen wurden, entschied die Wehrmacht, die französischen Kriegsgefangenen zum Arbeiten in das Deutsche Reich zu bringen. Vor der Verteilung dieser fast 1,6 Millionen Kriegsgefangenen auf die Lager in den dreizehn Wehrkreisen im „Altreich“, auf die zwei auf polnischem Gebiet befindlichen Wehrkreise sowie auf die zwei Wehrkreise in der „Ostmark“, dem Wehrkreis XVII Wien und XVIII Salzburg, wurden die meisten von ihnen in den Frontlagern festgehalten und alphabetisch registriert. Unter ihnen die Männer des 20. Artillerie-Corps Nord Africa, die sich vor dem Angriff der Deutschen nach Vaudemont zurückgezogen hatten.
Der winzige mittelalterliche Ort in Lothringen, malerisch auf einer Bergkuppe dreißig Kilometer südlich von Nancy gelegen, hatte für die deutsche Wehrmacht keine strategische Bedeutung. Ihre siegreichen Soldaten durchstreiften trotzdem die Gassen und entdeckten die französische Truppe.
Antoine Ménan und seine Kameraden blickten in feindliche Gewehrläufe und hörten Befehle in einer fremden Sprache, die die schlimmsten Befürchtungen der letzten Tage und Wochen bestätigten.
Drei Jahre zuvor hatte es ihm und seinen Freunden zu Ehren ein Fest in Sainte-Gemmes-d’Andigné gegeben. Der kleine Ort im Anjou, vierzig Kilometer nordwestlich von Angers entfernt, hatte ihre Musterung zum Militärdienst gebührend gefeiert. Stolz und mit mutig-fröhlichem Lächeln hatten sich die jungen Männer dem Fotografen präsentiert. Antoine war für die Position eines Meldereiters vorgesehen, deshalb hielt er als einziger seiner Kameraden eine Trompete vor seiner Brust. Als er im November 1938 den Namen seines Regimentes erfahren hatte, wähnte sich Europa im Frieden, und die Trennung von Familie und Freunden schien von kurzer Dauer zu sein. Doch in den Monaten danach wurde offensichtlich, dass der deutsche Reichskanzler Hitler durchaus keine friedlichen Absichten hegte.
Nach dem deutschen Überfall auf Polen hatten Frankreich und England dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, ohne effektive militärische Maßnahmen zu ergreifen. Unterstützt durch das defensive Verhalten der französischen Armeeführung gipfelte die erfolgreiche Westoffensive der deutschen Truppen in der siegreichen Eroberung Frankreichs.
Über das Schicksal der gefangenen Soldaten entschied das Oberkommando der Wehrmacht und die um Kollaboration bemühte Vichy-Regierung des Henri Philippe Pétain, die auf den Schutz der französischen Kriegsgefangenen durch die von der Genfer Konvention vorgesehene neutrale Schutzmacht USA verzichtete. Damit sah sich die deutsche Wehrmacht noch weniger an die Festlegungen des Abkommens gebunden.
Antoine Ménan (1. Reihe, 2. von links) nach seiner Musterung im Jahr 1937
Am 24. Juni 1940 wurden die Soldaten des 20. Artillerie-Corps Nord Africa festgenommen. Im eilig errichteten Frontlager wurde für Antoine Ménan bestimmt, ihn in ein Offizierslager nach Kärnten zu bringen, das seit Oktober 1939 der Gefangennahme polnischer Offiziere diente. Anfänglich waren sie in den Ställen des Ortes Wolfsberg untergebracht worden.
Im Wehrkreis XVIII, welcher die Regionen Tirol-Vorarlberg, Salzburg, Kärnten und die Steiermark einschloss, hatte die Wehrmacht versäumt, neben den drei Offizierslagern auch Mannschaftsstammlager zu schaffen. Gemäß der Genfer Konvention von 1929, Artikel siebenundzwanzig, durften Offiziere keine Tätigkeiten ausüben und Unteroffiziere nur Aufsichtsdienste leisten. Somit gab es in den Lagern dieser Regionen Österreichs zu wenige der so dringend benötigten Arbeitskräfte.
Antoine Ménan als Meldereiter bei seiner militärischen Ausbildung 1938
Mit dem Westfeldzug änderte sich die Situation. Die vielen, vor allem französischen Gefangenen mussten untergebracht werden. Aus dem „Kriegsgefangenen-Offizierslager Oflag XVIII B“ wurde das „Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager Stalag XVIII A Wolfsberg“, eines der größten Kriegsgefangenenlager der „Ostmark“. In Wolfsberg wurden zeitweise bis zu achtundvierzigtausend Kriegsgefangene, getrennt nach ihrer Staatsangehörigkeit, in fünfunddreißig Mannschaftsbaracken festgehalten. Sie schliefen auf doppelstöckigen Holzpritschen, die russischen Kriegsgefangenen später sogar auf dreistöckigen. Als Matratzen dienten mit Stroh gefüllte Säcke, in denen sich Ungeziefer einnistete. Es gab Tage, an denen dreihundert Männer einer Baracke um ihren Platz an den einundzwanzig Wasserhähnen für einige Tropfen kalten Wassers kämpfen mussten. Die Abortanlagen waren ständig überlastet und verstopft.
Die Bewacher der Kriegsgefangenen, organisiert in Landesschützen-Bataillonen, dienten vormals in der k. u. k. Armee oder im Bundesheer der Ersten Republik, waren entweder körperlich oder altersbedingt nicht voll einsatzfähig oder galten als politisch so unzuverlässig, dass sie keine Aufnahme in die deutsche Wehrmacht fanden.
Im März 1941, als in den Wehrmachtsunterlagen nur noch vom „Stalag XVIII A Wolfsberg“ die Rede war, fuhr Antoine Ménan, gemeinsam mit einigen seiner Kameraden auf der Ladefläche eines Lastwagens sitzend, einem unbekannten Ziel entgegen. Erst beim Aussteigen erkannte er, dass sie vor dem Gasthof eines Dorfes angehalten hatten und von Soldaten der Wehrmacht mit Maschinengewehren erwartet wurden. „Aussteigen! Beeilt euch!“ Auch wenn sie die Sprache nicht verstanden, hatten sie im Lager gelernt, was von ihnen verlangt wurde.
Im Tanzsaal des „Gasthofes Sindler“ lagen mit Stroh gefüllte Matratzen mit grauen, steifen Decken, die schnell unter den Gefangenen aufgeteilt waren. In Reih und Glied marschierten sie mit ihren Bewachern die leicht bergab führende Straße entlang, an der Kirche vorbei, die links von ihnen auf einem kleinen Hügel thronte, von einer Mauer schützend umgeben. Vor den französischen Kriegsgefangenen öffnete sich der Blick auf eine große,