Franzosenkind. Eduard Spörk

Franzosenkind - Eduard Spörk


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Ankunft der Fremden hatte sich bereits herumgesprochen. In den Augen der Frauen, Kinder und wenigen Männer, die die Gefangenen erwarteten, spiegelten sich Misstrauen, aber auch Neugierde. Sie waren auf die Hilfe derer, die da kamen, angewiesen. Der Krieg hatte ihre Männer, Söhne und Knechte fortgerissen und ihnen die Höfe, die Felder und die Kinder allein überlassen. Nicht jeder Bauer hatte wie Karl Sommer Pferde im Stall stehen. Dann mussten die Kühe den Pflug ziehen, was sie nur widerspenstig taten. Das überstieg nicht nur die Kräfte der Bäuerin, sondern auch die des Viehs, das weniger Milch gab. Aber die Ernte durfte nicht gefährdet werden. Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges wussten die Nationalsozialisten, dass sie weder vom Hunger geschwächten Soldaten noch einem notleidenden Volk die Idee von der Weltherrschaft schmackhaft machen konnten. Die menschlichen Tragödien zehrten schon genügend am Kampfwillen.

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       Die französischen Kriegsgefangenen in Übersbach beim Aufgang zu ihrem Quartier (Antoine Ménan sitzend, 2. von rechts)

      Antoine Ménan atmete tief durch. Er fühlte sich unwohl in seiner Uniform, auf die er im Lager an mehreren Stellen ein rotes Stoff-Dreieck mit den Buchstaben „KGF“ aufnähen musste, die Abkürzung für Kriegsgefangener. Seit Monaten trug er sie, notdürftig sauber gehalten, weil es den Soldaten nicht gestattet war, sie gegen zivile Kleidung zu tauschen.

      Der hagere Mann, der auf ihn zutrat, deutete mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Er schien kein Mann großer Worte zu sein, denn auch mit den Wehrmachtssoldaten sprach er nicht viel. In wenigen Schritten traten sie durch das Holztor in den Hof des Bauern Sommer. Antoine sah sofort, dass sich hinter den Wänden der Ställe und der Scheune viel Arbeit verbarg. Aber er scheute sie nicht. Im Gegenteil. Nach der Willkür des Lagerlebens sehnten sich seine Hände nach fruchtbarer Erde, dem Geruch von Heu, dem Fell der Tiere.

      Arbeit, die er als ältester Sohn von neun Kindern auf dem Hof La Feltière in Sainte-Gemmes-d’Andigné von klein auf kennengelernt hatte. Sein Vater Antoine Ménan, geboren am 14. April 1878, und seine Mutter Anna, eine am 19. Mai 1886 geborene Vigneron, führten fleißig und umsichtig den seit vierhundert Jahren im Familienbesitz befindlichen Hof. Sie warteten auf ihren Sohn, den dreiundzwanzig-jährigen Antoine Ménan, der diese Tradition fortsetzen sollte und wollte. Doch der Krieg hatte ihn in die östliche Steiermark gezerrt, die an Ungarn und an Slowenien grenzte. Im Gegensatz zum flachen Anjou wechselten in der Gegend um Übersbach Ebenen mit sanften Hügelketten, bewachsen von Wäldern, Wiesen, Weiden sowie Obst- und Weingärten.

      Die Sehnsucht nach seiner Familie brannte gerade in Antoines Herz, als sich ihm Juliana in den Weg stellte. Sie war einige Jahre jünger als ihr Mann und hatte unweit von Übersbach auf dem Hof der Greitners gelebt, den Tod der Mutter verkraften und die Stiefmutter ertragen müssen.

      Als sich Karl Sommer für Juliana zu interessieren begonnen hatte, bemängelten seine Schwestern ihre geringe Mitgift. Sie machten es Juliana nicht leicht auf dem Hof und schoben ihr die Arbeiten zu, die sie nicht erledigen wollten.

      Nachdem die Schwägerin aus Schiefer bei Fehring kinderlos blieb, setzte sie durch, dass die zweitälteste Tochter Julianas ab ihrem vierten Lebensjahr bei ihr aufzuwachsen hatte. Das Kind kehrte auch später nicht mehr an den Hof der Sommers zurück.

      Juliana blitzte Antoine zwischen leicht zusammengekniffenen Augenlidern an, doch in ihren Mundwinkeln zuckte ein wohlwollendes Lächeln. Beim gemeinsamen Essen um den großen hölzernen Esstisch in der Küche lernte Antoine die Kinder des Bauern Karl Sommer kennen. Karl, der älteste Sohn, betrachtete ihn skeptisch, die jüngeren wie Seppl, Tochter Hanni und der kleine Hans lächelten erwartungsvoll. Als Maria mit ihrem vierjährigen Sohn Franz die Küche betrat, fielen Antoine als Erstes die braunen Augen und die langen, schmalen Finger der jungen Frau auf. Dem Fremden galt nur ein scheuer Blick.

      Gemeinsam beschloss die Familie, dass Anton einfacher als Antoine auszusprechen war, und der junge Franzose ließ es geschehen. Er war froh, in Übersbach bei den Sommers angekommen zu sein. Im Gegensatz zu anderen Kriegsgefangenen schien er es gut getroffen zu haben.

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       Antoine Ménan als junger Soldat – ein sogenanntes „Souvenir de captivité“ für seine Mutter

      Die Insassen der Mannschaftsstammlager wurden in allen Wirtschaftszweigen eingesetzt. Neben der Land- und Forstwirtschaft wurden sie gezwungen, Großbetriebe, aber auch Unternehmen der Rüstungsindustrie aufzubauen. Sie verlegten Gleise, betonierten Straßen, förderten Kohle und produzierten Munition. Besonders die in Arbeitskommandos zusammengefassten Kriegsgefangenen, die außerhalb der Stammlager untergebracht wurden, waren bei körperlich schwerer Arbeit und mangelnder medizinischer Versorgung häufig Repressalien und Hunger ausgesetzt.

      Erleichtert stellte Antoine fest, dass der Patron, wie er den Bauern bald nannte, kein Anhänger der Nazis zu sein schien. Für ihn fleißig und ordentlich zu arbeiten, fiel Antoine leicht.

      Morgens wurde die Gruppe der Gefangenen von einem alten Wachmann bis zum Dorfplatz geführt. Er machte sich bald nicht mehr die Mühe, das Maschinengewehr in den Händen zu tragen, sondern es schaukelte an seiner Schulter. An der Mariensäule, oberhalb des Platzes, löste sich die Gruppe der Männer auf. Antoine hatte den kürzesten Weg, doch selten trat er durch das vordere Tor ein, welches die kleine Wohnung Marias auf der rechten Seite von der ihrer Eltern auf der linken Seite des Hoftores trennte. Er liebte es, an Marias Fenstern vorbei links den kleinen Fußweg an der Mauer des Hofes entlang zu gehen, über ihm die Kronen der Ringlotten-Bäume, die ihn so sehr an seine Heimat erinnerten. Auch wenn sie im Französischen Reineclaude hießen, trugen sie im Frühjahr das gleiche weiße Blütenkleid und die rundlich blauen Früchte die Süße des Sommers.

      Sobald Antoine durch das rückseitige große Tor in die Scheune trat, wusste er, wo seine Hände gebraucht wurden. Im Vergleich zu La Feltière besaß sein Patron wenige Pferde und Felder. Doch in Übersbach genoss Karl Sommer das Ansehen eines vermögenden und respektierten Bauern. Viele der Bauern auf den kleineren Höfen am unteren Teil des Dorfplatzes führten ein mühsames und beschwerliches Leben, weil sie sich nur wenige Schweine und Kühe leisten konnten und kleine Felder bewirtschafteten. Es konnte kein Zufall sein, dass besonders diese Bauern für die Parolen der Nazis empfänglicher waren.

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       Französische Kriegsgefangene in Übersbach bei ihrer Arbeit auf den Feldern

      Bereits in Zeiten, in denen die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) in Österreich noch verboten gewesen war, hatten sich überzeugte Anhänger Hitlers bemüht, junge Leute auf den Dörfern für die Ziele ihrer Ideologie zu begeistern. Sie übten mit ihnen das Marschieren und Schießen in Ställen und im Wald, was im Dorf gegensätzlich diskutiert wurde. In einer Gemeinschaft, in der jeder jeden von klein auf kannte, die katholische Kirche den Menschen das Prinzip der Nächstenliebe predigte und Traditionen seit Generationen gepflegt wurden, stießen die Nationalsozialisten häufig an ihre Machtgrenzen. Um den Einfluss der Kirche auf die Bevölkerung einzuschränken, verboten die Nazis in manchen Orten sonntags den Besuch des Gottesdienstes und schickten die Leute vor der Kirchentür zurück auf die Felder zum Arbeiten. Sie konnten aber nicht verhindern, dass zwischen den „deutschen Volksgenossen“ und den „kriegsgefangenen Angehörigen der Feindmächte“ die „volkstümliche Gefahr einer Annäherung“ bestand. Der im Laufe des Krieges gravierende Mangel an deutschen Arbeitskräften zwang die Nazis letztendlich, einige Verordnungen „zum Schutze der Volksgesundheit“ zurückzunehmen.

      Karl Sommer verhielt sich eigenwillig gegenüber Verordnungen und Verboten der Nazis. Er stattete Antoine eines Tages mit einem Hemd, einer Arbeitshose und festen Schuhen aus und legte die Uniform des jungen Franzosen in einen Kasten. Ihn kümmerte nicht, dass das Oberkommando der Wehrmacht festgelegt hatte, dass die Kriegsgefangenen keine Zivilkleidung tragen durften und sie selbst in Ordnung zu halten hatten. Er erfuhr rechtzeitig, wenn sich offizielle Kontrollen im Ort ankündigten. Dann konnte die Familie Antoine wieder in die Uniform stecken.

      In


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