Lass mich!. Kathrine Nedrejord
mit Jungs reden, du wirst dann komisch.
»Und wo?«
Ich spreche so leise, dass es an ein Wunder grenzt, dass er mich hört. Ich wünschte, es wäre Winter und nicht Herbst, dann würde ich einen langen Schal um den Hals tragen, in dem ich mich verstecken könnte.
»Im Supermarkt, glaube ich«, sagt er. »Und irgendwann im Sommer in der Buchhandlung.«
»Ach so«, antworte ich und bin mir sicher, ihn noch nie gesehen zu haben. Aber das kann stimmen. Mama beklagt sich immer, dass ich beim Einkaufen so abwesend wirke. Ich bleibe bei den Illustrierten oder den Büchern stehen, schaue mir die Cover an und blättere in einem Heft nach dem anderen. Dann nehme ich nichts um mich herum wahr. Ich lese gerne. Fast zu gerne. Mama wäre es recht, wenn ich das mit normaleren Interessen wie Sport oder Musik ausgleichen würde. Das habe ich auch versucht, aber nichts reicht ans Lesen auch nur annähernd heran. Nicht zuletzt sind Bücher und Illustrierte für mich Orte der Geborgenheit. Denn dort überfallen dich keine Unbekannten und zwingen dich dazu, mit ihnen zu reden.
»Schon damals habe ich mich gefragt, wie diese Beauty heißt, die immer in die Bücher schaut«, fährt der Typ fort. Mit Müh und Not schaffe ich es, ihn anzusehen. Die Bücher anzuschauen, hat keinen Sinn, weil die Cover einfach vor meinen Augen verschwimmen.
Aus meinem Mund dringt ein seltsames Geräusch. Eine Mischung aus einem Schluchzer und einem Seufzer, glaube ich, schwer zu sagen. Kann sein, dass ich ganz für mich ein ganz neues Geräusch erfunden habe.
»Ach was«, sage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst antworten soll. Er macht sich über mich lustig. Diese Beauty. Niemand hat mich bislang als schön bezeichnet. Lars-Kristian aus der Klasse hat mich mal in der Fünften hübsch genannt, aber inzwischen bin ich größer als die Hälfte der Jungs, und meine Augen sind noch dunkler als damals. Außerdem sind alle kleinen Kinder hübsch. Amanda ist die Beauty. Amanda weiß, wie man sich schminkt und frisiert. Amanda lächelt auf die richtige Art und lacht so, dass es ansteckt. Ich denke, dass er seine Ansicht geändert hätte, hätte Amanda neben mir gestanden.
»Und wie heißt du?«
Er lächelt noch immer.
Ich hole tief Luft.
»Anna«, antworte ich.
»Schöner Name«, erwidert er. »Ich heiße Samuel.«
Er streckt die Hand aus. Wie alt ist er? In jedem Fall älter als ich. Niemand aus meiner Klasse gibt Gleichaltrigen die Hand. Das habe ich noch nie erlebt. Ich bin fünfzehn, und es erscheint mir seltsam, mich im Kiosk mit jemandem unterhalten zu sollen, der mir die Hand geben will. Ich frage mich, wer er ist, und plötzlich bin ich nicht mehr nervös, sondern neugierig.
»Wohnst du hier?«
Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich zu einem Jungen, der nicht in meine Klasse geht, einen ganzen Satz sage. Nicht lang, aber trotzdem mein persönlicher Rekord. Amanda wird mir das nicht glauben, wenn ich ihr davon erzähle.
»Ich bin jetzt im Sommer hierhergezogen«, sagt er. »Mit meiner Mutter.«
»Ach«, erwidere ich und greife dann verzweifelt nach einem Buch. Einem mit schwarzem Cover und Flammen drauf. Ich habe es schon gelesen, aber egal. Ich halte es in die Höhe, als würde das als Erklärung genügen, und renne dann regelrecht von ihm weg zur Kasse. Er folgt mir nicht, aber ich spüre seinen Blick im Nacken.
Der Verkäufer sucht lange nach dem Preis. Er kratzt sich hinterm Ohr.
»Tja«, sagt er, hebt das Buch in die Höhe und dreht es hin und her. Ich spüre, dass der Blick vom Bücherständer her auf mir ruht. Mein Kopf kocht, und ich will eigentlich sagen, dass dieses verdammte Buch nicht so wichtig ist, aber der Verkäufer ruft jemanden aus dem Lager, ehe ich noch etwas sagen kann.
»Du, welche Warengruppe ist das?«
Ich atme tief durch. Eigentlich will ich kein Geld für ein Buch verschwenden, das ich schon gelesen habe, nur um einen Typen loszuwerden, und jetzt zieht sich der Vorgang auch noch in die Länge und hilft mir nicht aus dem flammenden Inferno, in dem ich gefangen bin.
»Folgendermaßen«, sagt die Verkäuferin und tippt ihrem Kollegen auf die Schulter. »Wenn der Strichcode nicht funktioniert, gibt es ihn vielleicht nicht im System …«
»Schon gut«, murmele ich und glaube zu sehen, dass sich Samuel in unsere Richtung bewegt.
»Bitte?«, sagt die Verkäuferin.
»Schon gut«, sage ich.
»Aber das klären wir!«, sagt sie mit einem gezwungenen Lächeln, aber jetzt höre ich Schritte und schüttele den Kopf, drehe mich um und halte auf die Tür und mein Fahrrad zu. Ich gehe mit raschen Schritten, und meine Hand liegt schon fast auf der Klinke, als ich erneut seine Stimme höre:
»Anna!«
So tun, als sei ich nicht gemeint, kann ich nicht. Ich muss reagieren. Ich seufze.
»Ja?«, sage ich heiser und drehe mich halb zu ihm um, sehe ihn aber nicht an.
Mit wenigen Schritten steht er neben mir. Das muss er geübt haben, denke ich.
»Es wäre nett, sich mal wieder zu treffen«, meint er. »Findest du nicht auch? Ich gehe im ersten Jahr in die Weiterführende, und da habe ich dich nie gesehen, du bist also noch in der Mittelstufe?«
»Ja. In Seida«, sage ich mit schwacher Stimme.
»Auf der anderen Seite der Brücke?«, will er wissen.
Ich nicke und habe nicht die Kraft, hochzuschauen. Ich will nur, dass diese Unterhaltung schnellstmöglich ein Ende nimmt.
»Vielleicht gibst du mir ja deine Handynummer?«, fragt er.
Ich beiße mir so fest auf die Zunge, dass es fast wehtut.
»Bitte?«, sage ich leise.
»Du hast doch ein Handy?« Er lächelt.
»Klar«, murmele ich, greife in meine Jackentasche und ziehe es heraus, als hätte er den Beweis verlangt. Es ist nicht neu, und der obere Teil des Displays ist gesplittert.
Samuel schnappt sich mein Handy.
»Wir machen das so«, sagt er. »Ich rufe mein Handy an, dann bin ich mir sicher, dass ich die richtige Nummer habe.«
Ich antworte nicht. Ich sehe zu, wie seine Finger über das Display tanzen. Er hält mein Handy eine Sekunde lang ans Ohr, dann spürt er offenbar, dass es in seiner Tasche vibriert. Er grinst und nickt.
»Gebongt«, sagt er. »Nett, dich kennengelernt zu haben, Anna.«
Dann tritt er als Erster durch die Tür. Verschwindet nach draußen. Nicht zu einem Fahrrad, sondern zu einem Moped. Ich schaue durch das Fenster in der Tür.
»He!«, ruft der Verkäufer hinter mir.
Ich will ihn eigentlich nicht aus den Augen lassen, sehe mich aber dazu gezwungen und drehe mich um.
»Jetzt funktioniert es!«, sagt der Verkäufer und winkt mit dem Buch mit dem Flammen-Cover.
Ich schüttele den Kopf.
»Mir fiel eben ein, dass ich das schon gelesen habe«, sage ich und spüre, dass meine Hand, mit der ich das Handy halte, zittert. Rasch schaue ich auf das Display und auf die Nummer, die dort aufgetaucht ist. Das kann nicht wahr sein. Ist das wirklich passiert? Es tanzt in meinem Bauch, keine Ballett-Truppe mit graziösen Bewegungen, sondern eine Truppe Cancan-Tänzerinnen mit spitzen Schuhen tritt mich von innen. Ich frage mich, ob ich noch einmal zurückgehen und die Bücher anschauen soll, aber zum ersten Mal interessieren sie mich nicht. Als ich die Tür öffne und ins Freie trete, sehe ich das Moped wegfahren. Er verschwindet in der entgegengesetzten Richtung zum Neubauviertel auf dieser Seite des Flusses. Ich wusste es, deswegen hatte ich ihn noch nie gesehen.
Es gefällt mir nicht, dass meine Hände so zittern.
Als ob mein Körper mehr verstanden