Lass mich!. Kathrine Nedrejord
zu schließen, bis plötzlich Amanda auftauchte, hat Mama mir erzählt. Im Kindergarten spielte ich meist allein. Eines Tages zog Amanda mit ihren Eltern in das Haus gegenüber, und das Problem war gelöst. Bereits an ihrem ersten Tag im Kindergarten blieb Amanda hinter mir im Sandkasten, in dem ich alleine mit einer Schaufel und dem grünen Eimer saß, stehen und tippte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah sie an. »Wir beide werden beste Freundinnen«, sagte sie. Glaube ich jedenfalls. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber Amanda sagt, dass es so gewesen ist.
Ich finde, dass das ein wenig zu sehr wirkt wie im Film, um wahr zu sein, aber ich erinnere mich ohnehin nicht an sonderlich viel aus dieser Zeit. Außerdem hat es keinen Sinn, Amanda zu widersprechen. Sie argumentiert gut und gewinnt in der Regel bei unseren Diskussionen. »Behauptest du etwa, dass ich lüge?« – »Nein, natürlich nicht.« – »Aber wenn du sagst, dass das nicht wahr ist, dann sagst du doch, dass ich lüge, Anna!« – »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« – »Ja, denn es wäre wirklich gemein von meiner besten Freundin, der Einzigen auf der Welt, auf die ich mich voll und ganz verlasse, wenn sie glauben würde, dass ich eine Lügnerin bin.« – »Tue ich nicht, Amanda!« So hört sich das meistens an, wenn ich ein seltenes Mal widerspreche.
»Wo willst du hin?«
Ohne zu überlegen bin ich plötzlich aufgestanden.
»Nichts weiter«, antworte ich. »Ich bin nur so – ich muss einfach was trinken, ich habe einen wahnsinnig trockenen Mund.«
Ich verlasse den Gruppenraum und gehe rasch den Gang entlang zu den Toiletten.
Glücklicherweise ist dort niemand.
Ich stelle mich vor den Spiegel und drehe den Hahn auf. Dann spritze ich mir ein wenig Wasser ins Gesicht. Ich weiß nicht, warum, es kommt mir einfach in den Sinn. Vielleicht, weil sich meine Stirn verschwitzt und feucht anfühlte. Mein Gesicht ist zu rund und jetzt noch dazu gerötet. »Du wirst viel roter im Gesicht als ich, wenn du erst mal rot wirst«, hat Amanda mal gesagt. Sie meint, dass das an meinem Vater liegt. Obwohl keine von uns je ein Foto von ihm gesehen hat. Ich weiß nur, dass Mama ihn in der Türkei in den Ferien kennengelernt hat. Da niemand aus der Familie außer mir Wuschelhaare hat, ist das und das heftige Erröten vermutlich Teil seines Erbmaterials.
»Eigentlich siehst du mit diesen Haaren nur noch mehr aus, wie sich die Leute die Samen vorstellen«, meint Amanda, »oder die Eskimos oder so. Aber eben ohne diese Locken. – Ich finde dich hübsch, megahübsch.« Das sagt sie häufig. »Aber die Leute in Norwegen sind so bescheuert. Denen sind Blondinen mit glatten Haaren und so lieber. Du siehst das doch auch. Die Jungs kleben an mir, als wäre ich magnetisch oder so.« Dann lächelt sie. »Aber wenn sie vernünftiger werden, dann entdecken sie, wie schön du bist.«
Ich denke an Samuel. Ist er vernünftiger?
Und an mein Gesicht, das eigentlich nur fürchterlich normal ist. Keine großen, funkelnden blauen Augen wie Amanda. Alles normal groß. Nase, Wangen, Mund. Anonym. Standard also.
Wären die Locken nicht, könnte ich mit der Wand verschmelzen oder würde zumindest in der Menge auf dem Schulhof verschwinden.
Dann hätte sich niemand an mich erinnert. Manchmal träume ich das, dass ich aussehe wie Mama und im Lebensmittelladen, im Bus, überall, nicht auffalle. Aber meine Haare verderben alles. »Meinst du diese Dunkelhaarige mit den Locken?« Meine Haare gehören fast noch mehr zu mir als mein Name. Sie waren sicher auch der Grund dafür, warum Samuel sich an mich erinnert hat. Ich meine, ihn das zu den anderen in der ersten Oberstufenklasse sagen zu hören. »Ihr wisst schon, die mit den Locken? Die Dunkelhaarige? Ich habe ihr weisgemacht, dass sie mich interessiert.« Das herzlose Lachen. Ich schlucke. Amanda hat recht. Ich bin wirklich zu leichtgläubig.
Es vibriert in meiner Hosentasche.
Ich schaue auf mein Handy. Es sind die Nummer und der Name, die ich gestern gespeichert habe.
Eine neue Nachricht von Samuel.
3
Ich war den Hang von der Schule langsam nach unten und nach Hause gegangen. Amanda hatte ich nichts von der Nachricht gesagt. Sie war wegen eines Treffens des Abschlussballkomitees noch in der Schule geblieben. Überall mischt sie mit, und sie kennt alle. Aber daran dachte ich auf dem Heimweg nicht, sondern nur an die Nachricht auf meinem Handy. Ich ging besonders langsam, weil ich die Vorfreude in die Länge ziehen wollte. Obwohl Amanda mit dem, was sie über diese Wetten gesagt hatte, garantiert recht hatte, hegte ich trotzdem die winzige Hoffnung, dass es nicht die Wahrheit und dass Samuel aufrichtig war.
Ich sollte es besser wissen. Ich hatte schließlich genug Bücher und Geschichten aus der Wirklichkeit gelesen, um zu wissen, dass die meisten Leute sich selbst betrügen. Jungs, die nett sind, haben oft Hintergedanken. Und Mädchen lassen sich immer wieder betrügen.
Und obwohl mir das alles durch den Kopf geht, lösche ich die Nachricht nicht.
Ich mache es mir mit einem Knäckebrot und einem Glas Orangensaft auf dem Sofa bequem, ziehe mein Handy aus der Tasche und lege es vor mich auf den Tisch. Ich zucke zusammen, als ich sehe, dass da jetzt zwei ungelesene Nachrichten sind. Ich entsperre das Handy und sehe, dass die zweite von Mama ist.
Samuel wartet also nicht so ungeduldig auf eine Antwort, dass er eine weitere Nachricht geschickt hätte. Ich weiß nicht, warum mich das enttäuscht, obwohl ich es nicht wirklich erwartet habe. Wie bei einem guten Essen hebe ich mir das Beste bis zum Schluss auf und lese deswegen zuerst, was Mama geschrieben hat.
»Kannst du bei Großvater vorbeischauen und fragen, ob er was aus dem Supermarkt braucht?«
Ich seufze. Dass mir Mama immer damit in den Ohren liegt. Ich antworte rasch:
»Keine Zeit. Hausaufgaben.«
Und jetzt tue ich es. Ich öffne die Nachricht. Erst trinke ich aber noch mein Glas in einem Zug leer und verschlucke mich. Ich huste ein paar Mal, ehe ich mich beruhigt habe. Dann tippe ich auf seinen Namen, Samuel, und schließe einen Augenblick lang die Augen, ehe der Text auftaucht:
»Hi Anna!«, steht da. »Hast du Donnerstag nach der Schule Zeit?«
Sonst nichts. Kein Punkt, Punkt, Punkt. Keine Emojis. Nichts. Das liest sich wie der Gegensatz einer Textnachricht, es ist eine Anti-Textnachricht. Sie besagt nichts.
Ich starre das Knäckebrot an, als sei das Knäckebrot schuld. Ich habe keinen Appetit mehr. Ich gehe in die Küche und werfe es in den Müll. Dann fällt mir ein, dass Mama es vielleicht bemerkt und mich ausschimpft, weil ich Essen wegwerfe. Widerwillig beuge ich mich vor und wühle im Mülleimer, damit das Knäckebrot nicht oben liegt. Ich räuspere mich, obwohl nur ich in der Küche bin. Einen Augenblick lang wünsche ich mir, ich hätte eine Katze oder einen Wellensittich, ein Wesen, mit dem ich reden kann, ohne dass es antwortet, das mir aber zumindest zuhört, denn ich verspüre Lust, etwas laut zu sagen und nicht nur zu denken, weil das mit Samuel so viel Platz einnimmt.
Ob ich Donnerstag nach der Schule Zeit habe, hat er gefragt.
Da gibt es nichts zu deuten. Vielleicht ist es eine Falle? Vielleicht will er, dass ich »Ja!« antworte, und dann macht er einen Screenshot und teilt ihn mit der halben Welt. »Sie glaubt wohl, dass ich mich für sie interessiere. Was bildet die sich ein?« Aber dafür gibt es keinen Anhaltspunkt. Wenn ich das Ausrufungszeichen wegnehme und durch ein Fragezeichen ersetze, hört es sich vielleicht skeptisch und uninteressiert an? »Ja?« Dann kann er doch wohl nicht behaupten, dass ich mir was einbilde?
Ohne weiter darüber nachzudenken, tue ich genau das. Ich antworte genau so, halb abwartend, dann werfe ich das Handy aufs Sofa, als würde es brennen. Das tut es beinahe auch. Ich stehe vor dem Sofa und starre es an. Wann wird er antworten? Sofort? In drei Tagen? Dann ist allerdings schon Donnerstag, und dieser Film …
Scheiße! Ich habe für Donnerstag schon Pläne. Amanda und ich haben uns letzte Woche verabredet. Ich hatte nicht mal daran gedacht, weil sonst nie jemand fragt, ob wir etwas unternehmen können, deswegen brauche ich mir auch nie was aufzuschreiben. Es läuft ein Film im Kino, den wir