ich. Sarah Michaela Orlovský

ich - Sarah Michaela Orlovský


Скачать книгу
Mitbringsel ist auf jeden Fall wichtiger als Papas heiliger Cappuccino, selbst wenn er nur eine Stunde Zeit hat.

      Alle vier Wochen ein Mitbringsel. Wenn Papa mitten in der Nacht heimkommt, schleicht er sich immer noch in mein Zimmer, egal zu welcher Uhrzeit. Ich bin noch kein einziges Mal davon aufgewacht. Ich weiß nur, dass er da war, weil ein kleines Päckchen auf meinem Nachtkästchen steht. Und da bleibt es dann, bis er wieder fährt. Ich packe es erst aus, wenn die Haustür hinter ihm ins Schloss gefallen ist. Denn dann brauche ich ein Stück von ihm, das bei mir bleibt. Damit ich die nächsten zwei Wochen aushalte. Auch wenn ich im Moment so wütend auf ihn bin, dass ich schreien könnte, 24/7.

      In Wirklichkeit sind Papas Geschenke gar keine Mitbringsel.

      Es sind Dableibsel.

      Dieses Mal ist es ein Paket in DIN A4. Mein Herz hat richtig geflattert beim Aufmachen. Es ist ein Schatz aus wunderschönem, griffigem Papier. Zu dünn für ein Buch, zu Natur für eine Illustrierte. Zu unförmig für irgendetwas, das ich kenne.

      Es ist ein Ferienbuch.

      Seite für Seite gefüllt mit schönen Dingen zum Durchlesen, Auffalten, Anschauen, Raustrennen, Nachmachen. Do It Yourself vom Allerfeinsten. Schöne Dinge von kreativen Leuten und Artikel über kreative Leute, die schöne Dinge machen. Die davon LEBEN, sich ihre Gedanken und Gefühle von der Seele zu zeichnen. Sie verbringen ihre Tage damit. Sie haben eigene ATELIERS dafür. Sie verdienen ihr GELD damit. Wie sich das wohl ausgeht? Haben die so viele Gefühle, dass sie am laufenden Band Bücher und Stoffe und Postkarten damit gestalten können? Oder gibt es Menschen, bei denen der Stift auch ohne Emotion tanzt?

      Ich versinke in die magische Welt zwischen den naturfarben bedruckten Seiten. See you later, alligator. (In a while crocodile. – Das werde ich dem Baby als Allererstes beibringen. Es wird das coolste Kind im Kindergarten sein, mit Rie-sen-ab-stand. Ein bisschen retro, aber cool.)

image

      Sieht so aus, als wäre ich wieder aufgetaucht. Aus der Versenkung. Aus dem Versunkensein. Was rede ich – aus dem Paradies! Gerade beginnt das Nachmittagsprogramm im Radio. Rock Classics. Mit Peter Kurz. DIE Idee des Radio-Kreativ-Teams. (Peter – Petrus – der Fels? ROCK Classics? Na ja. Es gibt Leute, die behaupten, ich neige zur Überinterpretation. Trotzdem: Ein Mitarbeitsplus in Religion würde mir zustehen, falls jemanden meine ganz persönliche Meinung interessiert.)

      Bis Peter Kurz’ rockige Stimme den Nachmittag eingeläutet hat, habe ich nicht einmal bemerkt, dass das Radio überhaupt eingeschaltet ist. (Gut so. Highway to Hell ist wohl kaum der richtige Soundtrack fürs Paradies …)

      Mama hat mich nicht zum Mittagessen gerufen. Entweder sie schläft oder sie zelebriert ihren Abschiedsschmerz. Als wäre sie die Einzige, der Papa fehlt. Als hätte sie das „Ich-vermisse-ihn-Monopol“.

      Oder sie hat einfach auf mich vergessen.

      Ganz egal. Alles egal, Leute.

      Ich bin plötzlich glasklar im Kopf. Ich weiß, wie ich diesen Sommer überlebe. Steht alles auf Seite 23:

      Staycation heißt das Zauberwort.

      STAYCATION.

      Danke, Papa. Ich hab dich lieb.

       Staycation

      Staycation, die.

      Ein großartiges Wort. Simply the best. Es steht nicht im Wörterbuch und es ist trotzdem richtiges Englisch. (Perfekt, um es im ersten Englisch-Aufsatz nach den Ferien zu verwenden. Damit sich unser rotschopfiger Lieblingsprof gleich wieder daran erinnert, was er an mir hat.)

      Definition Bleibe-Urlaub | Ferien zu Hause | Daheim-Sein mit Ferienprogramm

      Procedere Alle Regeln ignorieren, so wenig Vertrautes wie möglich machen, so wenig Zeit wie möglich im eigenen Zimmer verbringen. Spaß haben. Wege gehen, die man im Alltag nicht geht. Dinge tun, die man als Tourist sofort machen würde, die man aber trotzdem noch nie ausprobiert hat, einfach weil man hier WOHNT.

      Das ist der Plan. Erstens wegen des nicht verleugenbaren … nicht leugbaren … wegen des nicht zu verleugnenden … Also wegen des Witz-Faktors, des zweifelsfrei vorhandenen. Zweitens mangels Alternativen. Alle anderen sind auf Wegcation. (Vacation – WEGcation – check? My English is really the yellow from the egg!)

      Ich stopfe Wasserflasche, Schirmkappe, Sonnenbrille, den winzigen Rest Taschengeld und das Ferienbuch in meinen Rucksack. Schreibe Mama eine kurze Nachricht, schwinge mich aufs Rad und sause los.

      Bis zur Kreuzung.

      Dort drehe ich um und bringe das Rad zurück in die Garage.

      Ich bin auf Staycation. Kein Mensch macht Sightseeing mit Fahrrad, hier, in einer hügeligen Mini-Stadt mit Kopfsteinpflaster.

       I’m a tourist, baby, so why don’t you kill me

      Wohin führt der erste Weg jeder anständigen Touristin? – Richtig: Zum Gratis-Klo im nächsten Fastfood-Schuppen. Fastfood haben wir keines und die 50 Cent für die öffentliche Toilette spar ich mir lieber (Rechenbeispiel: 2 Mal nicht aufs Klo gegangen = 1 Kugel Pistazie beim Esistsommerundplötzlichstehichhierherum-Eiswagerl). Also fange ich bei Station Numero zwei jeder anständigen Touristin an: Der Touristeninformation. Die haben wir zwar auch nicht, aber wozu gibt’s denn das Bürger-Service-Center im Gemeindeamt? – Eben.

      Ich hole meine Sonnenbrille aus dem Rucksack und schiebe sie mir in die Frisur. Touristinnen haben immer Sonnenbrillen auf. Quasi ungeschriebenes Gesetz des Sommerurlaubs.

      Im Gemeindeamt ist es angenehm kühl. Gleich über der trockengelben Stechpalme beim Eingang hängt ein riesiger Schaukasten. Fahrpläne für Bus, Zug und Müllabfuhr, Grünschnitt-Ablieferungszeiten, Öffnungszeiten des Altstoffsammelzentrums … Nichts von Interesse für eine Touristin, die gerade all ihre Sorgen für eine Woche in ihr verlassenes Schlafzimmer gesperrt hat.

      Schräg gegenüber ist das Glasfenster für den Parteienverkehr. Zwei Schreibtische sind zu sehen. Einer hinten an der Wand, wo die mittelalterliche Sekretärin des Bürgermeisters mit lackierten Fingernägeln in die Tastatur hämmert. Als ich sehe, wer am zweiten Schreibtisch sitzt, eingedeckt mit Ordnern, Trennblättern und Klarsichtfolien, würde ich am liebsten den Rückwärtsgang einlegen, bevor mich irgendjemand außer der Überwachungskamera an der Decke entdeckt hat. Aber da hebt Theresa schon den Kopf. WIE VIEL Glück kann EIN Mensch haben? Da will man Urlaub spielen – und wer spielt Touristen-Info? Aus-gerech-net die stilbewussteste Dame der Schule (um das Wort „Obertussi“ elegant zu umschiffen).

      „Hi!“, zwitschert Theresa. „Wie kann ich dir helfen?“

      Das frage ich mich auch.

      „Ist das dein Ferialjob?“ – Ein lahmer Versuch, Zeit zu gewinnen. „Korrekt“, strahlt Theresa. „Und was führt dich hierher?“

      Okay. Ich brauche eine neue Strategie. ‚Ich bin auf Urlaub hier und möchte mich gerne über Ihre Angebote informieren‘ scheint mir ir-gend-wie nicht mehr der richtige Einstieg zu sein, angesichts der Personallage hier.

      „Ich wollte mich gerne informieren“, zäume ich das Pferd vorsichtig von hinten auf. „Haben wir Angebote für Touristen?“

      „Aber selbstverständlich“, nickt Theresa.

      Aha. Der muss man aber auch wirklich alles aus der Nase ziehen. Wahrscheinlich kriegt sie pro Satz im Ich-helfe-einer-Kundin-Dialog bezahlt.

      „Gibt es dazu vielleicht auch Unterlagen, die man jemandem geben könnte, der hierher auf Urlaub fahren möchte?“

      „Natürlich“, lächelt Theresa.

      Meine


Скачать книгу