Der erste Russe. Lasha Bugadze
Schaut mal, wie lange schon halten uns die Ausländer für Russen, fast zwei Jahrhunderte. Und viele wissen bis heute nicht, dass wir eine völlig andere Nation sind … Wir und Russen! Auch die Sprache ist eine andere, die Schrift und die Kultur, kann dann nicht auch die Religion eine andere sein? Warum sollten wir Orthodoxe sein oder Katholiken, wenn wir den Amirani haben!«
»Ich werde dem eine Tracht Prügel verpassen«, murmelte ein Mann neben dem Oberpriester, die Frau fasste ihren Heiden bei der Hand und zog ihn wie ein kleines Kind in Richtung eines heruntergekommenen Landhauses, dabei fing das Kind an zu weinen, aber auch der Oberpriester gab auf, obwohl die Taufe seiner Meinung nach der Kulminationspunkt der Diskussion gewesen wäre.
Der heidnische Physiker war die Ausnahme, denn es wurden alle getauft, denen wir unterwegs begegneten, und deren Familienmitglieder gleich mit – meistens Kinder, Enkelkinder und wegen der Sowjetzeit ungetauft gebliebene Großeltern. Unser pflichtbewusster Oberpriester sagte: »Früher tauften die Eltern ihre Kinder, jetzt taufen die Kinder ihre Eltern.«
In Bordschomi sahen wir uns Tausenden Heiden gegenüber: Schullehrer, ehemalige Parteisekretäre, ehemalige Parteifunktionäre, ehemalige und immer noch aktive Oktoberrevolutionäre, Pioniere, Veteranen des Zweiten Weltkriegs, Helden der Arbeit, Dorfintelligenzler, Chauffeure und Ärzte …
Sie ließen sich zu zehnt, ja zu Hunderten taufen. Sei es ein Bach, Wasserfall, Kanal oder Fluss, überall standen halb nackte Leute Schlange. Die Frauen gingen im Kleid ins Wasser, die Männer zogen sich ab der Taille aufwärts aus, krempelten die Hosenbeine hoch oder entkleideten sich komplett. Die Priester gingen bis zur Gürtellinie ins Wasser und tunkten (das Wort – tunken – mochten alle) die umstehenden Männer, Frauen und Kinder ohne Umschweife, gekonnt, eilig und irgendwie unfeierlich unter. Sie standen mit durchnässten, beschwerten Soutanen mitten im Wasser und wiederholten freudig, würdevoll und seufzend ein und dieselben Worte: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen!« Für viele war es noch ungewohnt, sich zu bekreuzigen, sie schienen sich unbehaglich zu fühlen, wussten nicht, wohin mit ihren Händen, hielten sie mal hoch oder legten sie auf die Brust und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.
Ein allgemeiner Enthusiasmus griff um sich, in den Menschen erwachte ein neuartiger Instinkt. Es war, als wenn sie Teil von etwas Bedeutendem und Besserem würden.
Die alten Frauen und Männer näherten sich jetzt schüchtern lächelnd den im Wasser stehenden starken Riesen mit den nassen Haaren und Bärten (als Täufer brauchte man offenbar eine Menge Kraft), die ihnen neue Bedeutsamkeit schenken sollten. Manche hielten die Taufe sogar für einen Teil von Gorbatschows Reformen und vermuteten, wer sich dem allgemeinen Enthusiasmus nicht anschließe, würde es im weiteren Leben schwer haben. Wer fürchtete, in der Minderheit zu sein, wollte jetzt auf der Seite der Mehrheit stehen, wo sich wiederum die wiederfanden, die jahrzehntelang gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Kirche unterdrückt worden waren.
Es gab Leute, die ließen sich vier-, ja fünfmal taufen. Sie liefen mutig ins Wasser und baten die gleichen Priester um ein neuerliches Untertunken. Sie gingen in Gruppen, mit der Familie, ihren nackten Kindern, gebrechlichen Rentnern und auch skeptischen Familienmitgliedern (meist Ehemänner, die von ihren Frauen genötigt worden waren). Selbst wenn einer nur mitgekommen war, um der Taufe eines Verwandten zuzusehen, wurde er nicht dem Heidentum überlassen – sein Kopf wurde garantiert ebenso untergetaucht.
In Mzcheta, in der Nähe von Swetizchoweli, fielen am allgemeinen Tauftag so viele Leute über den Mtkwari-Fluss und den Aragwi-Fluss her, dass im Wasser kein Platz mehr zum Stehen war.
Zum Taufen hatte man auch meinen Großvater mitgenommen, ein extrem passives Mitglied der Kommunistischen Partei und Direktor des wissenschaftlich-technischen Büros des Instituts für Arbeitsschutz, der noch einige Nachbarn mitbrachte. Sie ließen sich gemeinsam in den Fluten des Aragwi taufen.
Von meiner Taufe wusste ich nur aus Erzählungen, denn damals war ich noch kein Jahr alt, und mir hätte auch keiner davon erzählt, hätte nicht der Bart meines jungen Paten Feuer gefangen. Er war Maler, genauso wie mein Vater, und ein aufmüpfiger Student. Er war von der Kunstakademie geflogen, weil er in der Sioni-Kathedrale Messdiener gewesen war, und unheimlich erschrocken über den kleinen Brand (vielleicht dachte er, es seien vom Heiligen Geist gesandte Feuerzungen). Es war der Mann, der sechs Jahre nach meiner Taufe versuchte, ein Tu-134-Flugzeug aus der Sowjetunion zu entführen, und dabei unter ungeklärten Umständen tödlich verletzt wurde.
Jetzt jedoch, immer noch in der Nähe von Bordschomi, dort, wo der Mtkwari-Fluss flacher wurde und sich die Prozessionsteilnehmer zum zweiten, fünften oder zehnten Mal taufen ließen, fand auch ich mich unerwartet im Wasser wieder. »Komm herein, komm tiefer herein«, sagte der nasse, pflichtbewusste Priester, ein Hüne mit zerzaustem Bart- und Kopfhaar. Ich, Enkel meiner Großmütter und ein anspruchsvolles und skeptisches Kind, ging sogar bis zur Hüfte hinein. Der Priester fackelte nicht lange, sobald ich bei ihm war, legte er die Hand auf meinen Kopf und drückte mich fast schon grob und beängstigend unter Wasser. Er tauchte mich, wartete einen Moment, sagte etwas (dasselbe, was er immer sagte), zog mich wieder hoch, tunkte mich noch tiefer und ließ mich noch ein bisschen länger unter Wasser; so lange, dass ich genug Zeit hatte, mich zu fürchten, und so kräftig, dass jeglicher Widerstand zwecklos war. Ich hatte ein seltsames Gefühl: Es war, als verlöre ich unter Wasser das Bewusstsein, für eine Sekunde, anderthalb Sekunden, und erst als ich wieder hochgezogen wurde, kehrte ich als höfliches, ruhiges Kind zum Ritual zurück. Diese neuerliche Taufe blieb mir in Erinnerung, weil ich schon groß war und kein einjähriges Kind wie bei meiner ersten Taufe 1977.
An ebenjenem Ufer des mit taufwilligen Leuten gefüllten Mtkwari stieß meine von meiner Pilgerreise und meinem Heldentum begeisterte Mutter zu uns, ebenso meine Tante und meine über deren Verantwortungslosigkeit verärgerte Großmutter (insgesamt war ich vierzig Kilometer mit dem Kreuz in der Hand gelaufen).
Da ich aber das Kreuz nicht aufgeben wollte, jedoch auch nicht mehr laufen konnte (»Das Kind hat Plattfüße, wollt ihr, dass es unterwegs zusammenbricht?«, hatte meine Großmutter verärgert gerufen), einigten wir uns letzten Endes auf einen Kompromiss: Vater Dawit erteilte mir großzügig die Erlaubnis, das Kreuz ein paar Tage später beim Einzug der Gläubigen in Mzcheta zu tragen, ich solle bis dahin nach Hause zurückkehren und darüber nachsinnen, welchen Weg ich zurückgelegt hatte.
Niemand strahlte in diesem Augenblick mehr Autorität für mich aus als dieser Mann.
Meine Mutter hatte sich zwar wirklich Sorgen gemacht, war aber trotzdem zufrieden mit ihrem Erfolg: Ich hatte für einige Tage nicht ferngesehen, war noch einmal getauft worden, hatte keine Angst gehabt, mit Kleidern ins Wasser zu gehen, hatte mich ein bisschen verändert (dachte sie zumindest) und ein teilweise sportliches, teilweise naturnahes (also männliches) Leben geführt.
»Wieder vorn zu gehen wäre wohl ein bisschen vermessen«, sagte sie, »lass uns einfach nach Mzcheta aufbrechen und ihrem Einzug zuschauen.«
Komisch, aber irgendwie wollte ich gar nicht mehr weg; in den anderthalb Tagen hatte ich mich an den Rhythmus und die Abläufe der langen Prozession gewöhnt, an die Taufen unterwegs, die Diskussionen, das Wohlwollen und die Begeisterung, die uns in den Dörfern entgegenschlugen, und, was die Hauptsache war, an das Gefühl der eigenen Wichtigkeit, mit dem ich nach Achaldaba kam. Ich hatte etwas erlebt, das mich zumindest ein wenig von meinem vorgestrigen Ich unterschied. Meine Tante und ich tauschten wieder – ich kehrte nach Hause zurück, sie zum Prozessionszug. Genauer gesagt, kehrte ich weniger nach Hause zurück als vielmehr zu jener Welt, die ich vor anderthalb Tagen verlassen hatte – zu denselben Stimmen, die der unter den Reformen wiederbelebte Fernseher von sich gab, demselben Geruch, der während des Sommers in den Wohnungen hängt. Drei Tage später, bevor ich darüber meine Reise vergessen konnte, folgte ich den (für unsere Familie typisch) enthusiastischen Frauen nach Mzcheta, wo die Prozession auf dem Weg der heiligen Nino im Hof des Nonnenklosters Samtawro enden sollte.
Der Mann, dessen Foto heutzutage religiöse Kalender, kirchliche Infostände und gläserne Spendenbüchsen von Klöstern oder verschiedenen Stiftungen in Supermärkten ziert, wohnte damals in einer Turmzelle neben Samtawro und verströmte Fischgeruch. Zumindest glaubte ich, dass es Fischgeruch war, weil er zwar kein Fleisch aß,