Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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manchmal schlechte Gedanken? Zum Beispiel über einen Menschen, der dich verärgert hat? Dass ihm etwas Schlimmes zustoßen sollte …«

      »Ja …«

      »… dass er sterben sollte, mal angenommen.«

      »Ja … Nein … »

      »Tja …«, sagte er nachdenklich.

      Irgendwie befürchtete ich, er würde mir jetzt die Frage stellen, mit der er meinen Klassenkameraden dazu gebracht hatte, seine Hauptsünde zu offenbaren. Und wenn er das täte, würden mir garantiert jene sündigen Gedanken in den Sinn kommen, die mir, seitdem ich die pikanten Episoden aus dem Leben Katharinas II. auf Video angeschaut hatte, nicht aus dem Kopf gingen.

      Er fragte jedoch nichts dergleichen, sagte nur: »Möchtest du selbst nicht noch etwas hinzufügen?«

      Was hätte ich hinzufügen sollen? Ich hatte mich in keiner Weise einer solchen Sünde (wenngleich ich immer noch so meine Zweifel hatte, dass mein Klassenkamerad sie wirklich begangen hatte) schuldig gemacht, an Katharina jedoch wollte ich prinzipiell nicht erinnert werden. Ich weiß eigentlich nicht genau, warum ich Vater Dawit allen Ernstes entgegnete: »Ich habe furchtbare Angst vor Außerirdischen, alle sprechen davon, und ich möchte wissen, gibt es die nun wirklich oder nicht?«

      Die Frage war so dermaßen idiotisch und nicht altersgemäß, dass Vater Dawit plötzlich aufhorchte, mich etwas verdutzt musterte (wahrscheinlich versuchte er mein Alter zu schätzen) und bedächtig, mit gesenkter Stimme stockend antwortete: »Weißt du, das musst du auf alle Fälle meiden, auf alle Fälle …«

      Was? Die Außerirdischen oder die Gedanken an Außerirdische? Ich war verwirrt.

      Ich kniete nieder, Vater Dawit legte die Hand auf meinen Kopf und las ein Gebet.

      Ich fühlte, wie er in der Luft über meinem Kopf ein Kreuz schlug.

      Es ist 1989, ich renne durch den staubigen Schulflur, eine Lehrkraft jagt mich und schreit mir nach, ich solle das Pionierhalstuch umbinden.

      Die Lehrkraft atmet schwer – Kinder zu jagen und gleichzeitig anzuschreien macht ihr zu schaffen.

      Die Sowjetunion liegt in den letzten Zügen, unsere Schule gilt im Vergleich mit neuartigen und sowjetischen Schulen als relativ liberal, die Pionierhalstücher verbrennen wir schon seit zwei Jahren öffentlich im Schulhof, unsere junge Lehrkraft verfällt in eine solche Hysterie, dass ein Infarkt nahe scheint.

      Er brüllt über alle Flure, Klassenräume und alle fünf Etagen: »Bindet die Halstücher um, oder es rollen Köpfe!« Wir aber – die Anführer der örtlichen Nationalbewegung und der »Nationalen Freiheitspartei« – rennen verängstigt herum und sind verwundert, dass uns unsere Lehrkraft, wo niemand die sowjetischen Gesetze befolgt, hartnäckig bittet, das rote Halstuch zu tragen!

      Dieser Mann ist ein Despot, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er einen Klassenkameraden um den Trinkbrunnen jagte. Von seinem Gebrüll gefriert uns das Blut, er ist der letzte Mensch, der bis zum Sanktnimmerleinstag schreien wird: »Ohne Halstuch ist nicht erlaubt

      Wie peinlich wäre es, wenn er einen von uns Parteiführern erwischen und wie jenes arme Kind vor dem Schulgebäude herumjagen würde! Ich bin der Vizepräsident, vor mir rennt mein Präsident – Klassenkamerad und Dichter –, mein Namensvetter. Wenn dieser Mann uns einholt und einem von uns einen Fußtritt verpasst, müssen wir die Partei auflösen.

      Was juckt uns das verwirrte, brüllende Sowjet-Überbleibsel, was ist nicht erlaubt? Was ist nicht erlaubt, Herr Dimitri, Sie pseudomodernisierte, pseudomoderne Lehrkraft? Haben Sie Angst, Ihren Posten zu verlieren? Wozu Halstücher, wenn schon alles erlaubt ist?! Die Sowjetunion zerfällt, die Zeitungen drucken unzensierte Skandalnachrichten. Verbotene historische Fakten nehmen wir so auf, als ginge es um unsere Gegenwart: Lenin hat Syphilis gehabt, Stalin hat Hitler geheime Informationen verraten, Gorbatschows Frau Raissa heißt in Wirklichkeit Rebekka, Breschnew lässt sich von der Wunderheilerin Dschuna kurieren, seine bulgarische Wahrsagerin Wanga hat ihm vor zehn Jahren den Zerfall des Imperiums vorausgesagt, die Bolschewiken haben mehr als zwanzig Millionen Menschen erschossen, während der Verlesung des Vertrages zum Anschluss Georgiens an Russland sind die georgischen Adligen in der Sioni-Kathedrale eingeschlossen worden, der ehemalige Generalsekretär Andropow ist in Wirklichkeit der amerikanische Musiker Glenn Miller gewesen …

      Auf drei Fernsehsendern (von denen nur ein einziger einheimisch ist – der Erste Kanal Sowjetgeorgiens) laufen neue Sendungen, wir sehen zum ersten Mal Filme aus dem Horror- und dem seichten Erotikgenre im Fernsehen: Im ersten Fall zersägt eine Frau einen maskierten Mann, im zweiten Fall kniet eine Frau vor einem Mann, öffnet seine Hose und … Und ich bin nicht nur vom unerwarteten Inhalt der Sendungen, sondern auch vom Wandel der Zeiten schockiert und höre nebenbei meinen gebannten Vater sagen: »Au Mann, die sind ja völlig verrückt geworden.«

      Meine Großmutter steht mit der Antenne in der Hand beim alten Fernseher und versucht, das flimmernde Bild in den Griff zu kriegen, sie kann die Antenne kaum still halten und schaut auf einem Bein stehend zum Fernseher, aber das Bild ist trotzdem gestört, und sie drischt erbarmungslos und schimpfend auf den Fernseher ein. Es ist ein Paradoxon: Der Schlag bringt den Fernseher zur Besinnung, das Bild wird deutlich.

      Der Zerfall der Sowjetunion wird durchs Fernsehen beschleunigt: Alle reden. Alle reden über alles. Alles ist erlaubt, liebe Lehrkraft, du Speichellecker und überflüssiges Überbleibsel, wozu Pionierhalstücher? Die Leute setzen Naturgesetze außer Kraft. Wir, Parteiangehörige und Parteilose, sitzen vor dem Fernsehbildschirm und schauen uns an, wie der Wunderheiler Longo eine Leiche zum Leben zu erwecken versucht: Es ist die Nachtausgabe der Nachrichten, alles spielt sich in einem Leichenschauhaus in Moskau ab, der Tote liegt auf einer Bahre, am Kopfende steht der Wunderheiler Longo und streckt die Hände nach ihm aus, an der Wand stehen die eingeschüchterten Pathologen. Longo wedelt mit den Händen, schnauft laut (seinem Schnaufen lauschen mit angehaltenem Atem zweihundertfünfzig Millionen Sowjetbürger), geht immer näher an den Verstorbenen heran … Und plötzlich – es ist unglaublich! – (»Er ist auferstanden«, sagt mein Vater, eher wütend als erstaunt, »die machen die Leute verrückt«) –, hebt auch die Leiche die Hände, richtet sich auf … Den Pathologen rutscht das Herz in die Hose. Gibt es etwa die Auferstehung von den Toten? In der Sowjetunion, während der letzten Regierungsjahre Michail Gorbatschows werden die Toten wieder zum Leben erweckt. Longo erhält Briefe: »Lassen Sie Nikolaus II. wiederauferstehen«, »Erwecken Sie Stalin wieder zum Leben, er wird die Ordnung wiederherstellen …«

      An die Psyche der Kinder denkt keiner; als die Sowjetunion ihrem Ende zugeht, schreibt uns niemand vor, wir sollen nicht mehr fernsehen, pünktlich schlafen gehen, zeitig aufstehen, denn jetzt ist es unmöglich, nicht fernzusehen. Vor nicht allzu langer Zeit gab es Filme aus dem Westen nur einmal pro Woche zu sehen, samstags, in der Sendung »Illusion«, und die schönsten und neuesten nur am Vorweihnachtsabend oder zu Ostern, damit die Leute nicht in die Kirche strömten, wie es schon populär geworden war. Man war in der Zwickmühle: Geh ich zum Gottesdienst, oder schau ich »Illusion«? Geh ich in die Kirche, oder entscheide ich mich für den (zensierten) »Paten«? Damals entschieden sich viele gegen die »Illusion«, fühlten sich nicht mehr verpflichtet, zum achtzehnten Mal »My Fair Lady« anzuschauen, und gingen, zum Leidwesen des Kremls, zu Ehren des Gottes der orthodoxen Georgier in eine funktionstüchtige Kathedrale und schlossen sich auf diese Art der Nationalbewegung an. Die wichtigste und verlockendste Sendung war »Video-Video«, in der die Leute erstmals den »Killer-Cyborg« und die Abenteuer des Muskelprotzes Rambo zu sehen bekamen. Das war das letzte Lockmittel der sterbenden kommunistischen Regierung, das ZK versuchte die Leute mithilfe des Fernsehgottes von den Kirchen wegzulocken, aber zu spät: Uns hielt schon nichts mehr zu Hause, weder ein »Rambo« noch ein teuflisch erscheinender »Jesus von Nazareth« konnte die Demonstrationen verhindern.

      Welches Elternteil hätte es gewagt, uns zum Schlafengehen zu ermahnen? Was wäre gewesen, wenn man uns nicht die Freiheit gegeben hätte, so viele neue Dinge zu sehen?

      In der Schule verfolgt uns die Lehrkraft,


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