Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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habe völlig verdrängt, warum ich mit dieser dermaßen angesagten Stimme und Mimik auf der Bühne eines Saals mit zweitausend Leuten landete. Vielleicht hätte Eduard Schewardnadse einen Volksschauspieler aus mir gemacht, wenn meine Eltern nicht protestiert hätten, vor allem mein Vater, der mir mit Herrn Macharadse kam, ein Idol jener Imitatoren der Epoche, die sich eher durch Zurückhaltung hervortaten. Macharadse wage es im Gegensatz zu mir noch nicht, Eduard Schewardnadse zu imitieren, »wenn überhaupt, dann äfft er Gorbatschow, dessen Frau, die hiesigen führenden Persönlichkeiten und die Vertreter der Intelligenzija nach«, gab mein Vater zu bedenken. Meine Großmutter war wie immer auf der Seite meines Vaters: »Das ist gefährlich, Mensch, dieser Schewardnadse ist ein großes Übel – er ist nachtragend.« Sie glaubte nicht, dass ein Politiker, insbesondere ein Kommunist (sei er auch ehemaliger Kommunist und mitverantwortlich für den Berliner Mauerfall), jemals etwas vergessen konnte. Außerdem war sie irgendwie davon überzeugt, Eduard Schewardnadse im fernen Moskau sei an meiner Person interessiert: »Findet für mich heraus, wer dieser dickliche Junge ist, der hat ja vor nichts Respekt! Pluralismus heißt noch lange nicht, dass Ungezogenheit erlaubt ist.« Die andere Großmutter nahm meine Bühnenaktivitäten nicht so tragisch, im Gegenteil, sie war zufrieden, denn sie konnte von meinem ersten Honorar neue Küchenstühle erwerben. Auf der berühmten Fete steckten mir zunächst der Exhäftling, dann aber auch andere Leute sowjetische Fünfundzwanzig-Rubel-Scheine zu, deren Annahme ich kategorisch ablehnte, und das nicht nur aus Höflichkeit, damals wusste ich einfach gar nicht so richtig, was Geld bedeutet, schon gar nicht Sowjetgeld – Hauptsache, ich hatte ein Publikum und konnte auftreten.

      Meine Mutter sagte, mein Vater sei imstande, alle zu Schülern zu machen, die mit ihm zu tun hatten, egal ob Freund oder Schwiegereltern; vom Großvater eines Klassenkameraden hieß es, er könne innerhalb kürzester Zeit Menschen für sich einspannen, die er gerade erst kennengelernt hatte, und zwar so, dass derjenige überhaupt nicht merkte, wie ihm geschah: Erst freundete er sich mit ihnen an und lieh ihnen sein Auto, dann lungerte er im Hausflur herum, und am Ende führte er schleichend Pflichten ein: »Hol den Enkel von der Schule ab, schau bei meiner Frau vorbei, wasch das Auto.« In meinem Falle lief das ähnlich: Diejenigen, die einfach nur zu Besuch kamen oder mich zufällig trafen, dienten oft ohne ihr Einverständnis und prinzipiell gegen ihren Willen als Publikum. »Er braucht Feedback«, sagte eine clevere Frau lächelnd zu meiner Mutter, die offenbar eher Psychologin als Zuhörerin war, was mir zwar nicht gefiel, mich aber auch nicht davon abhielt, Eindruck schinden zu wollen. Ich sprach über alles Mögliche und mit der Stimme von allen Möglichen, gab Phrasen von mir, die dieser Tage total angesagt und lustig zu sein schienen, mit meiner Kühnheit jagte ich meiner ohnehin schon verängstigten Großmutter noch mehr Angst ein und beschoss all jene mit Eduard Schewardnadses Stimme, die nicht an die Verwandlung eines Kommunisten in einen Demokraten glaubten.

      Dass die Ängste meiner Großmutter übertrieben waren, wurde durch die Auftritte von brandneuen Parodisten bestätigt: Früher ließen sich alle taufen, jetzt parodierten alle. Plötzlich tauchten unzählige Leute auf, die eifrig und gewitzt sowohl lebende als auch tote Politiker nachahmten: den mit georgischem Akzent russisch sprechenden Josef Stalin, den von plötzlichem Durchfall geplagten, schleppend sprechenden Leonid Breschnew, den trügerisch lächelnden Eduard Schewardnadse und den auf Demonstrationen mit nach rechts verzogenem Mundwinkel in erlesenem Georgisch schreienden Swiad Gamsachurdia.

      Der erste Präsident Swiad Gamsachurdia war eine viel angesagtere Stimme in Georgien als die von Eduard Schewardnadse. Dessen Stimme wurde verblüffend glaubwürdig von meinem Klassenkameraden (dem Präsidenten der »Nationalen Freiheitspartei«) verkörpert – denn er hatte von Natur aus beinahe die gleiche Stimme und musste sie somit gar nicht verstellen. Damals scheuten wir keine Mühe, den krankhaft politikverdrossenen Leuten wenigstens zwei Widersacher zu Gehör zu bringen: den Dissidentenpräsidenten Gamsachurdia und den nach Stalin populärsten georgischen Politiker, Schewardnadse, der irgendwann vor deren Zerfall Außenminister der Sowjetunion gewesen war. Wir nahmen einen fiktiven Dialog der beiden mit dem Kassettenrekorder auf und machten den Geburtstagsgästen meiner Großmutter begeistert weis, der Hauptdissident und der bekannteste Georgier hätten vor einigen Tagen auf dem Radiosender »Stimme Amerikas« eine große Auseinandersetzung gehabt. Die Gäste durchschauten den Trick schon nach wenigen Sekunden, bekämpften sich dann aber trotzdem bis aufs Messer, um ihren eigenen Favoriten zu verteidigen.

      Später – es verblieben noch einige Monate bis zum Sturz der ersten Regierung im unabhängigen Georgien – wurde die Legende geboren, Präsident Gamsachurdia habe einen Eduard-Schewardnadse-Imitator in sein Büro bestellt und wehmütig gelächelt, als dieser mit der Stimme seines Gegners dummes Zeug von sich gab. Es hieß, der Imitator sei einige Male in Begeisterung verfallen und auch der Präsident sei dermaßen hingerissen gewesen, dass er vergessen habe, wer vor ihm stand, und diesen Eduard Schewardnadse schreiend aus dem Büro gezerrt habe: »Weiche, Satan!«

      Mein Klassenkamerad sagte bedauernd, Schewardnadse nachahmend, ein Literaturkritiker und Dissident sei keinesfalls für das Präsidentenamt geeignet: »Alle, die ich in meinen Artikeln beschimpfte, haben ein Maschinengewehr in die Hand genommen.«

      Präsident Gamsachurdias Dissertationsverteidigung war im georgischen Staatsfernsehen live übertragen worden: Die Wissenschaftler ergingen sich ganze fünf Stunden lang in Lobliedern auf das Werk des ehemaligen Dissidenten und Literaturkenners mit Spezialgebiet Schota Rustawelis »Recke im Tigerfell«. Die Übertragung wurde zeitweise unterbrochen, und als sie neu startete, war immer noch die Dissertation des Präsidenten Hauptmeldung des Tages.

      Später, als auf einem Sender ein Imitatorenneuling mehr oder weniger erfolgreich den zukünftigen Präsidenten parodierte, beziehungsweise als er wie dieser die Faust schwang und den rechten Mundwinkel leicht hochzog, flimmerte der Bildschirm plötzlich in Regenbogenfarben: Offensichtlich war im unabhängigen Georgien das Parodieren des Präsidenten nicht erlaubt.

      »Die alten Zensoren sitzen immer noch fest im Sattel, und wenn ich nicht darauf hinweise, setzen sie diese furchtbaren Gesetze um, ich verbiete nichts, jeder kann über mich lachen, wie er möchte«, rechtfertigte sich mein Klassenkamerad mit Dissidentenpräsidentenstimme. »Ich bitte dich, sehe ich jetzt etwa aus wie ein Zensor?«

      »Tust du, mein Guter, ja«, antwortete ich mit Schewardnadses Stimme und Lächeln.

      Dabei tat er das überhaupt nicht.

      Am siebten April 1991 bestaunte ich ziemlich lange jenen Mann, der in zwei Tagen die Unabhängigkeit des Landes verkünden sollte.

      Vater Dawit, der mir den Kontakt zu Außerirdischen verboten hatte, hielt zu jener Zeit Gottesdienste in Swetizchoweli ab, und ungeachtet dessen, dass meine Mutter und meine Tante gegenüber der neu erstarkten Kirche bereits skeptisch waren, schrieben sie trotzdem eine nicht besonders interessante Sündenliste auf einen Zettel und eilten zu ihrem nur unregelmäßig aufgesuchten Beichtvater. Anders als beim letzten Mal lehnte ich es diesmal entschieden ab, meine Sünden aufzuzählen, erklärte mich jedoch halbherzig bereit, zum Gottesdienst mitzukommen. Zunächst erschien uns die Kirche völlig leer – nur ein paar gelangweilte Mädchen sangen ohne Zuhörer, es stellte sich aber heraus, dass in der Ecke an einer unscheinbaren Säule Präsident Gamsachurdia stand, eine ziemlich lange Kerze in der Hand, sich leicht wiegend.

      »Vielleicht war er nervös«, sagte mein Vater, als ich ihm von der Begegnung erzählte, »schließlich erklärt er bald die Unabhängigkeit, stell dir vor, wie gestresst er sein muss.«

      Gestresst und vollkommen allein: Sein Dissidentenpartner Merab Kostawa war kurz zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, von dem es hieß, er sei vom KGB inszeniert worden. Es war der Stil des sowjetischen KGB, einen Mord wie einen natürlichen Tod aussehen zu lassen. So war es in den Dreißigern des zwanzigsten Jahrhunderts und so wird es auch weiterhin sein – auch im Russland des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wo unter der Regierung eines ehemaligen KGB-Offiziers politische Gegner »natürlich« umgebracht werden.

      Nach der Tragödie des neunten April 1989 wurde es zur Regel, dass die Georgier, außer sich und verrückt vor Angst, ins Leichenschauhaus gingen oder davor Demonstrationen abhielten. Die Leute gingen dorthin, wo die bekannten Opfer lagen. Sie wollten die Toten sehen: »Zeigt uns die Verstorbenen!«

      Diesmal


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