Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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in der Hand.

      Was sollte meine Mutter tun? Niemand war in der Nähe, der ihr hätte helfen können. Der Ausweg bestand darin, sich selbst unangepasst zu verhalten, und so ging sie lächelnd, höflich, ja, regelrecht liebevoll auf den bewaffneten Mann zu: »Oh, ich habe Sie beinahe nicht erkannt! Wie geht es Ihnen?«

      Der Mann ließ seine heraushängende Zunge im Mund verschwinden, verbarg das Messer und murmelte: »Danke, geht so, meine Liebe …«

      Die Moral hatte den Mann aus dem Konzept gebracht. Die Höflichkeit erinnerte ihn daran, dass ihn jemand immer noch als Mensch wahrnahm.

      Meine Mutter kam zwar wohlbehalten nach Hause, verbrachte wegen des Schrecks jedoch zwei Wochen im Bett.

      Ich imitierte diesen Mann bei meiner Angebeteten, doch ich jagte diesmal ihrer Großmutter einen Schrecken ein: »Ah«, rief die alte Frau besorgt, »das heißt also, man kann nicht mehr zu Fuß auf die Straße gehen?«

      Zu Fuß – nein. Nur noch mit dem Automann?

      Ich hatte einen Fehler gemacht. Mich und den Präsidenten meiner Partei befiel Hoffnungslosigkeit. Seine Gedichte über die imitierten Angebeteten machten zwar mehr Eindruck auf die Zuhörerin, aber das änderte nicht viel: Alles nur leere Worte, mehr nicht.

      Ich, ein ordentlich aussehender Student, werde vom Pädagogen unseres Militärkurses, Oberst Witali Ziklauri, zum Zugführer ernannt. Das heißt, ich muss am Semesterende von meinen Kommilitonen Geld eintreiben und dem Oberst als Geschenk übergeben. Anderenfalls würden wir keine Note eingeschrieben bekommen und zwangsläufig in die historisch gesehen schon unabhängige georgische, beziehungsweise Schewardnadse’sche, inhaltlich und strukturell jedoch noch sowjetische Armee eingezogen. Das will natürlich keiner riskieren, denn die Armee ist genauso wie die Regierung arm und kriminell.

      Die Staatliche Universität bewahrt ihre Studenten vor der Einberufung, wenn sie im Verlauf eines Jahres theoretisch eine militärische Vorbereitung durchlaufen, aber das funktioniert nicht, denn so, wie in Wirklichkeit von Oberst Witali Ziklauri unterrichtet wird, kann man es gar nicht als richtiges Fach betrachten: Der alte sowjetische Offizier weiß nur, wie man laut und mit russischem Akzent Befehle schreit und das ganze Jahr ein und dasselbe wiederholt, nämlich dass es Liege-, Steh- und Sitzgräben gibt, mehr nicht.

      Es ist der letzte Tag des Semesters. Ich bin furchtbar aufgeregt, denn mich erwartet eine unerträgliche Prozedur – ich soll mit Oberst Ziklauri in den Sanitätsraum gehen, wo ich eine psychologisch und moralisch vernichtende choreografische Übung absolvieren muss: Ich muss ihm möglichst unbemerkt die Opfergabe des militärischen Zuges in die Hand drücken: (»Hach, mein Junge, das wäre doch nicht nötig gewesen!«)

      Ich muss das erste und das letzte Mal einen Menschen bestechen.

      Er ist durch und durch ein Sowjetmensch – hinsichtlich Stimme, Verhalten, gespielter Wut und dem Geruch von Eau de Cologne, der den ganzen Hörsaal verpestet. Das Eau de Cologne ist bestimmt schon lange übers Verfallsdatum, vielleicht sogar schon giftig, aber Genosse (nach 1991 – Herr) Witali Ziklauri benetzt trotzdem beharrlich seine grau-grünlichen Wangen damit.

      Eduard Schewardnadse ist jetzt seit einem Jahr Präsident Georgiens (bis dahin hatte er den Posten des Staatsoberhaupts inne). Im Land herrscht die totale Hungersnot. Unsere Hoffnungen ruhen auf Schewardnadses alten Freunden – dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und seinem US-amerikanischen Amtskollegen James Baker, die wie üblich für einen oder anderthalb Tage Georgien besuchen. Die Anhänger des vertriebenen ersten Präsidenten halten genau bei Bakers Ankunft eine Demonstration ab, um sich bei ihm über die Ungerechtigkeiten der neuen, ungesetzlichen Regierung zu beklagen. James Baker geht zusammen mit Schewardnadse in den großen Konzertsaal, wo der feierliche Kongress der Präsidentenpartei eröffnet werden soll, die Demonstranten kommen vom Bahnhof (von dort bis zum großen Konzertsaal sind es zwei Kilometer) und liefern sich auf dem Weg – auf dem Heldenplatz, in der Nähe des Zirkus, zwischen den zwei Hügeln der Stadt – Schusswechsel mit den quasi-staatlichen Kräften (halb Banditen, halb Kämpfer). Die Leute laufen auseinander, niemand weiß, wie viele getötet werden – manche sagen zwei Menschen, andere fünfzig, wieder andere nicht ein einziger (in Georgien waren offizielle Zahlenangaben immer schon mit Vorsicht zu genießen). James Baker eröffnet mit dem Präsidenten den Kongress. Er weiß nicht, dass in zwei Kilometern Entfernung vielleicht zwei bis fünfzig Menschen getötet worden sind.

      Dieses Jahr wird im Hof des Obersten Rats ein Mordanschlag auf Schewardnadse verübt, doch wie durch ein Wunder kommt er mit dem Leben davon (innerhalb kurzer Zeit schon zum zweiten Mal; ihn werden noch weitere Terrorakte erwarten).

      Das Land versinkt im Chaos, jedoch nicht in einem wie vor einem Jahr: Das diesjährige Chaos ist, verglichen mit dem Chaos der anderen Jahre, weniger chaotisch. Jeder hat eine Neurose, die in verschiedenen Formen verläuft. Bekannt ist der Versprecher des georgischen Verteidigungsministers Nadibaidse auf der Parade zur Unabhängigkeitsfeier am sechsundzwanzigsten Mai: »Ich gratuliere euch zu unserem vorzeitigen Feiertag!«

      Keine Ahnung, welches Wort er statt »vorzeitig« eigentlich sagen wollte.

      Minister Nadibaidse ist eine Mischung aus unserem Oberst Ziklauri und dem oft besiegten General Utscha Utschadse, der uns am letzten Tag des Semesters besucht.

      Unser Utscha Utschadse redet ebenso eigenartig, er stottert, spricht die Wörter nicht zu Ende – nur einige Anfangsbuchstaben. Außerdem ist er beschwipst. Schon als er zu uns hereinkam, hatte er im Lehrerzimmer Schnaps getrunken, und keiner weiß, wie sich das auf sein Verhalten auswirkt …

      Utscha Utschadse kommt in unseren Raum. Er scheint ein Typ zu sein, der normalerweise gut drauf ist.

      Witali Ziklauri donnert wichtigtuerisch los: »Stillgestanden, zuhören!«

      Doch schon beim zweiten Wort bricht seine Stimme ab, vielleicht würde er gleich noch loshusten. Ihm geht es schlecht, er ist es nicht mehr gewohnt, so herumzubrüllen.

      Der besiegte General Utscha Utschadse steht am Tisch und nimmt die Mütze ab – er hat rote Wangen und nasses blondes Haar. Ein junger, dickbäuchiger Mann.

      »Hallo, Jungs!«, schreit er (man hört nur die ersten Buchstaben Hal… Ju…)

      Wir schauen stumm.

      Ich habe das Geld der Truppe in der Tasche.

      »Nun, schauen wir mal, wie gut ihr vorbereitet seid«, sagt er.

      »Uh«, lacht oder stöhnt Oberst Ziklauri.

      General Utscha Utschadse legt seine Mütze auf den Tisch. Er stützt seine mit blondem Flaum und bräunlichen Sommersprossen bedeckten Hände auf den Tisch und schaut uns aus müden grauen Augen an: »Nun, wie viel Mann sind eine Hundertschaft?«, ruft er.

      Ach du Schande, weiß dieser Mann etwa nicht, dass wir nichts wissen?

      Hätte ich das Bestechungsgeld dem Oberst etwa geben sollen, bevor Utscha Utschadse hereingekommen ist? Prinzipiell gehen mich die Hundertschaften nichts an, ich bin in einer Zwanzigschaft. Oder was ist das für eine Frage? Wie viele sollen denn eine Hundertschaft sein? Hundert wahrscheinlich. Nein? Aber warum fragt er uns, wenn es einfach hundert sind? Vielleicht sind sechzig Mann in einer Hundertschaft? Oder fünfundsechzig? Oder sogar zweihundert?

      »Wie viel ist denn nun eine Hunderter Hundertschaft?«, wiederholt er die Frage. Seine Augen lächeln.

      Macht General Utscha Utschadse einen Scherz?

      Oberst Ziklauri schaut uns wütend an: »Gebt jetzt irgendeine Antwort! Keine alberne – eine ordentliche.«

      Wann soll ich das Geld übergeben, Herr Witali?, frage ich mich.

      »Hundert«, antwortet jemand leise.

      »Oh, bravo«, sagt Utscha Utschadse und freut sich.

      Ziklauri lächelt.

      Wir freuen uns auch.

      Doch plötzlich stellt er uns


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