Der erste Russe. Lasha Bugadze
antwortet Megi, die ihre Schuhe hatte ausziehen müssen und nun mit blauen Tüten an den Füßen und abgespreizten Armen neben einer Grenzbeamtin steht. Megi hat in jeder Hand ein Telefon.
Ich lege schnell die georgische Sprache ab. Als ob ich nichts mehr verstünde und nichts mehr sähe. Ich muss mir was überlegen, damit mich dieser Mann nicht sieht. Er erinnert mich an meine Ängste eine Woche zuvor: an den dunklen Garten des Patriarchats, die schwach gelblich beleuchteten Flure und den Geruch von Weihrauch drinnen im Patriarchat. Ich fühle mich verfolgt. Ich denke: Wohin kehre ich zurück? Warum kehre ich zurück? Nach einer Weile sehe ich ihn zusammen mit einer zwei Köpfe kleineren Frau durch den Duty-free des Istanbuler Flughafens schlendern. Die dicke, agile Megi schreit durch den ganzen Flughafen: »Vater Bessarion, möchtest du Schokolade oder sonst was?« Nicht möchten Sie, sondern möchtest du. Wahrscheinlich sind sie zusammen zur Schule gegangen.
Ich komme aus Mailand, wohin ich sieben Tage nach meiner Nicht-Reue gefahren war. Ich habe kein Geld mehr beziehungsweise gerade so viel, um mir davon ein Wasser kaufen zu können. Unter fremden Leuten fühle ich mich ruhiger als unter meinen Landsleuten, die am Gate Istanbul–Tbilissi zusammengepfercht sind.
Ich besteige das Flugzeug, setze mich in die erste Reihe, Megi und die Frauen quetschen sich hinter mich. Diese Megi hat dicke Arme, sie stopft die Tasche eifrig ins Gepäckfach, Vater Bessarion möchte in der Businessclass sitzen.
Ein kleiner Vorhang trennt meinen Sitzplatz von seinem. Ich sehe, wie die Flugbegleiterin gekühlte Getränke reicht und er auf komische Art Alkohol verlangt: »Bitte, hier, Whisky.«
Danach schließt sich der Vorhang.
Ich stelle mich schlafend: Ich habe sogar meinen Mund leicht geöffnet, damit es glaubhaft wirkt.
Das Flugzeug rollt auf die Startbahn, die Besatzung ist angeschnallt, plötzlich steht eine alte Georgierin auf, öffnet das Gepäckfach und versucht, eine Tasche herauszunehmen. Die alte Frau wird zurück auf ihren Platz gesetzt. »Ich dachte, ich könnte vielleicht was essen«, sagt sie. Ihr Telefon ist ebenfalls nicht ausgeschaltet. Sie versteht weder in ihrer Mutter- noch in Gebärdensprache, dass Telefone nicht benutzt werden dürfen. Ich weiß jetzt schon, wenn sie es ihr am Ende doch begreiflich machen, wird sie sagen, sie wisse nicht, wie man das Telefon ausschaltet, und wird es weinend irgendwem in die Hand drücken: »Ich weiß es doch nicht, mein Sohn hat es mir gegeben.« Aber es gibt Schlimmeres als das, denn wir alle haben eine große gemeinsame Angst – vor einigen Monaten sind in New York zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme gekracht, und jedes leicht unangemessene Verhalten kommt uns anormal und verdächtig vor. Die alte Frau wird auf ihren Sitzplatz verfrachtet, ich schließe die Augen, höre ihre Stimme – sie erzählt der jungen Frau neben ihr: »Fünf Jahre lang bin ich nicht in Georgien gewesen, mein Neffe ist gestorben, außer mir haben sie niemanden mehr, ich kümmere mich um meinen betagten Bruder …«
Sie ist selbst betagt.
»Meine Gute, kommen wir heute an?«
Offenbar sitzt sie zum ersten Mal in einem Flugzeug. Wie ist sie dann nach Istanbul gekommen? Wie hat sie es bis hierher geschafft? Oder wie kam sie überhaupt bis ins Flugzeug?
Ich versuche, nicht mehr darüber nachzudenken. Es kommt mir vor, als ob diese Frau noch größeren Unsinn von sich gibt: »Kommen wir von vorn oder von hinten angeflogen?«
Jemand berührt mich an der Schulter und schüttelt mich gehörig durch. Ich öffne die Augen, vor mir steht Vater Bessarion.
»Entschuldigung, hab ich dich geweckt?«, fragt er.
»Nein, nein.« Was soll’s.
»Falls du nicht müde bist, komm doch rüber nach dem Abendmahl, neben mir sitzt keiner. Ich hab’s schon den Mädels gesagt …«
In Flugzeugen gibt es ein Abendmahl?!
Vater Bessarion hat gerötete Augen und irgendwie unnatürliche, wie mit einem schmalen Pinsel aufgemalte, ängstlich hochgezogene Augenbrauen. Er spricht mit hoher Tenorstimme, aber nicht besonders laut. Die alte Frau schaut den unbekannten Priester liebevoll an, wahrscheinlich möchte sie auch ihm unbedingt erzählen, warum sie nach Georgien zurückkommt. Erzählen und sich segnen lassen … Gleich hier – im Gang der Economyclass. Ich ahne, dass meine Mitpassagiere mit Vergnügen eine Predigt von Vater Bessarion hören würden, der wie die Flugbegleiterinnen im Gang stehen könnte: »Flieget hin und werdet glücklich!«
Ich ärgere mich, dass ich parieren muss, dass ich wieder gehorchen muss, so wie ich schon diesen ganzen letzten Monat gehorcht habe, dass ich mich erneut darum drücke, Ja oder Nein zu sagen, und trotzdem stehe ich auf und folge ihm in die Businessclass, als ob ich vor seinem Sitzplatz die Beichte ablegen wollte.
Vater Bessarion schnallt sich flink mit zittrigen Händen an und vertraut mir mit zugekniffenen Augen und besorgt-müdem Gesicht seine Reisegeschichten an: Diese Megi und die anderen Frauen seien Mitglieder seiner Gemeinde, die via Istanbul nach Griechenland geflogen und jetzt aus Athen zurückgekommen seien, sie hätten an den Gräbern orthodoxer Heiliger gebetet und auch überdies allerhand erlebt, was er mir ausführlich erklärt. Dann erzählt Vater Bessarion von Megis Abenteuern. »Ein gutherziges Mädchen«, sagt er leise, »hat seinerzeit viel erreicht … hat eine Chance bekommen, auch finanziell, nur …«
Jedenfalls sieht es aus, als habe man ihr später alles weggenommen, denn nun stand ihr der Sinn nach einer Reise zu heiligen Gräbern.
»Sie schauen anders auf den Glauben … nicht so, dass sie sagen würden: Wo ist das Wunder, lass es mich berühren … Nein, so nicht … Wie Apostel Thomas den Finger in die Wunde legt, so in etwa.«
Vater Bessarion versucht sich umzuschauen, er will wissen, ob ihn jemand hört, aber er hat den Gurt so festgezogen, dass er sich nicht umdrehen kann oder ihm schlecht wird, wenn er sich bewegt. Plötzlich errötet er wieder. Stattdessen blicke ich mich um und schaue Megi an, die schon schläft, den Mund offen: Es gibt Menschen, die unheimlich schnell einschlafen. Genau so ein Mensch ist Megi.
»Hat sich dein Problem gelöst?«, fragt er mich, wartet allerdings meine Antwort nicht ab, sondern spricht weiter. »Ich hab mich dafür geschämt, was sie mit dir gemacht haben, das schwöre ich dir, aber ich konnte nichts sagen. Hätte ich sagen sollen ›Was macht ihr da? Gegen wen stellt ihr euch? Gegen die Künstler?‹«, richtet sich Vater Bessarion an einen unsichtbaren Gegner, der sich seiner Meinung nach irgendwo zwischen Cockpit und Toilette befinden muss.
Während Vater Bessarion redet, zeigt der Alkohol Wirkung. Manchmal hebt er die Stimme, dreht sich dann sogleich um und geht zum Flüstern über, ich vermute, er hat Flugangst, weil er, als eine Lampe plötzlich flackert, verwirrt erstarrt: »Was ist los, sollen wir die Kabine verlassen?«, sich dann aber beruhigt: »Nein, doch nicht … Da hat nur jemand die Stewardess gerufen.«
Ich möchte Vater Bessarion loben, weil er so ehrlich mir gegenüber ist. Es scheint, als würde er sich wirklich für irgendetwas schämen.
»Du warst damals mit deinen Freunden zusammen, und ich dachte: Die halten uns wahrscheinlich für Ewiggestrige, dabei konnte ich nichts sagen, weil man auch auf uns ein Auge hat: Diese Augen … In denen wütet ein großer Krieg. Ihr wisst es noch nicht, aber bald wird sich alles klären …«
Vater Bessarion nimmt ein Feuchttuch aus der Tüte und wischt sich zwischen den dicken, neurotisch zitternden Fingern herum.
»Wolltest du sie reizen?«, fragt er lächelnd. »Wolltest du Publicity?«
Ich tue so, als verstünde ich nicht, was er meint. Ich mag den Mann nicht, seinen vertraulich-ehrlichen Tonfall, ich möchte aufstehen und zu meinem Platz zurückgehen.
»Die Kirche will uns abwatschen, tja, was soll man machen, ihr müsst uns bloßstellen, beleidigen, diese Lügner beschimpfen … Aber weißt du, was alle stört? Dass ihr die beleidigt, die der Patriarch liebt. Ihn dürft ihr nicht anrühren, beschimpft uns, aber nicht ihn …«
Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill, was für ein Typ er ist. Wahrscheinlich ist er einfach betrunken und plappert dummes Zeug. Oder hat Angst vorm