Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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      »Andere müsst ihr bloßstellen, die Pharisäer, in Wirklichkeit ist doch die Entwicklung schon im Gange, der Antichrist ist schon da, der Krieg der Zivilisationen bricht aus, warum will das keiner wahrhaben?«

      Vater Bessarion spricht immer noch an die Ecke gewandt – die Lücke zwischen Toilette und Cockpit.

      Am meisten ermüdet mich, erfolglos dem roten Faden seiner Rede zu folgen, der Priester springt mit vernichtender Schnelligkeit nicht nur von einem Thema zum anderen, sondern auch von einem Gemütszustand zum anderen: Gerade dachte man noch, er sagt etwas Passendes, und schon sagt er etwas Paranoides und lässt dich ratlos zurück. In seinem Kopf, den er jetzt ängstlich an die Lehne seines Sitzes drückt, herrscht ein völliges kulturell-religiös-sozialökonomisch-philosophisches Durcheinander, er könnte im Herzen sogar Atheist sein und sich nur in den turbulenten Zeiten wie ein Gläubiger benehmen.

      Er ist doch ein Lieber, verängstigt und verwirrt, vielleicht möchte er gar kein Priester sein.

      Und er ist offenbar auch noch eine Labertasche. Vater Bessarion lässt sich über die Konflikte innerhalb der geistlichen Hierarchie aus, beschimpft die Bischöfe, irgendwelche Leute, die nicht begreifen, wie unethisch es ist, manche Dinge auszusprechen, selbst in der Beichte: »Warum soll ich mir das Gefasel anhören!«, sagt er, lobt jedoch umgehend irgendeinen Mann, der eine Beichte abgelegt habe, die ihm bis heute nicht aus dem Kopf gehe. Ich bekomme das Gefühl, dass er mir dessen Geschichte erzählen will. Er merkt selbst nicht mehr, wovon er eigentlich erzählt, noch vor Kurzen hatte er zumindest seine Stimme im Griff, jetzt jedoch schreit er, wie er will und was er will: »Diese Schweine drängen uns zurück in die Sowjetunion, schaufeln den alten Bonzen das Geld in die Taschen und scheißen drauf, was ich will oder was du willst, was das Volk will. Sie häufen weiß Gott wie viel an und hetzen die Leute auf, währenddessen vermehrt sich ihr Geld und ihr Einfluss. Sieh mal, so was sagen die: Der Antichrist ist im Westen, Europa – die Wiege des Bösen! Wohin wollt ihr? Wollt ihr dorthin? Nun, ratet mal, wer die Sintflut überleben wird! Das orthodoxe Russland! Das neue Byzanz. Du solltest mal hören, was die in den Predigten für Sachen erzählen …«

      Am Vorhang erscheint Megis Kopf, sie lächelt.

      »Warum schreist du so, Vater Bessarion?«

      »Was ist los, fühlt sich jemand gestört?« Sein Gesicht hellt sich auf.

      Soll sich diese Megi doch zu dem Mann setzen und ihn beruhigen, so gut sie kann. Ich löse den Gurt, sage, ich müsse etwas schreiben, und stehe auf. Er fragt mich: »Wieder etwas Skandalöses?« Wir lachen. Plötzlich legt er die Hand auf mich: »Du hättest die Heilige nicht beleidigen dürfen. Das ist eine Sünde. Was die Ewiggestrigen sagen, ist das eine, in Wirklichkeit liegt das Problem ganz woanders. Warum sollte man mit der Sünde herumlaufen?«

      Er hat wieder den Gemütszustand gewechselt, er wird zu einem anderen Mann.

      Eigentlich sollte es mir zuwider sein, ist es aber nicht, und ich stelle die Frage, die ich diesen Monat fast täglich gestellt habe: »Haben Sie selbst meine Erzählung gelesen?«

      »Ja«, erwidert er, aber ich bin sicher, dass er lügt.

      »Wo habe ich etwas Beleidigendes geschrieben?«

      »Du hast geschrieben, dass sie einen Hängearsch hatte. Das ist eine Sünde.« Vater Bessarion lässt nicht locker. »Das sollte dir leidtun, aber nur den ehrenhaften Leuten gegenüber, jenen gegenüber nicht … Vielleicht quassele ich jetzt viel, aber ich bin auf deiner Seite.«

      Wer ist dieser betrunkene Mann, warum stehe ich hier bei ihm? Die Sache ist für mich schon seit einer Woche vorbei, doch ich lasse mir nichts anmerken, antworte nichts, lächle ihn furchtbar verlogen an und verabschiede mich fürs Erste.

      Der Priester löst den Gurt – hoffentlich nicht, um sich zu geißeln (was für ihn zweifellos eine Heldentat ist) –, steht auf, wendet sich zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Tu, was du willst, wem’s nicht gefällt, soll erst vor der eigenen Tür kehren.«

       Selbst ohne zu wissen, bei wem du zu Besuch bist, würdest du gleich beim Eintreten merken, dass hier Künstler wohnen. An den Wänden hängen große und kleine Gemälde, auf den Regalen und an allen Orten, wo Platz ist, liegen zahllose Bücher. Vom Fenster aus sind die Wendeltreppen und Holzbalkone des italienischen Hofes zu sehen. Man spürt, hier muss ein kleiner Hort der Kultur und des geistigen Lebens sein. Des geistigen Lebens?, wird der Leser fragen, denn entweder findet er diesen Begriff abgedroschen, oder er bringt ihn nicht mit unserem Gesprächspartner in Verbindung. Ist das etwa »geistiges Leben«, wenn ein junger Mann, der sich für einen Künstler hält, eine Episode aus dem Leben einer von den Georgiern verehrten Heiligen auf abstoßende Art und Weise beschreibt und generell die Geschichte in den Schmutz zieht? Oder sind wir einfach rückständig und halten das für Schmiererei, was für »solche Leute« Kunst sein soll? Unser heutiger Gast ist genau diese Person, die solche Fragen aufwirft und, ich übertreibe nicht, solche Empörung verursacht: ein dreiundzwanzigjähriger Mann, der aufgrund seiner skandalösen Erzählung in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt ist. Hier muss ich erwähnen, dass ich ihn ein paarmal im Fernsehen gesehen habe und er jedes Mal in mir den Eindruck eines arroganten jungen Mannes hinterlassen hat, in Wirklichkeit jedoch ein höflicher Mensch ist. Sein Vater hatte sein Atelier gleich nebenan und arbeitete dort an der Staffelei.

       Ich habe unserem Gast Fragen gestellt, welche die Gesellschaft hinsichtlich seiner Person beschäftigen, und entschuldigte mich im Voraus, falls die eine oder andere davon inakzeptabel sei.

      Sie: Deine Erzählung haben zwar nicht viele gelesen, aber der Text hat schon dermaßen großes Aufsehen und Ärger hervorgerufen, dass selbst im Parlament über eine Zensur diskutiert wurde. Es hieß, ein Schriftsteller dürfe nicht alles schreiben. Kannst du uns schildern, was du geschrieben hast?

      Ich: Es ist ein satirischer Text über Königin Tamar und ihren ersten Ehemann, Juri Bogoljubski, der nach zwei Jahren Ehe auf ihr Geheiß aus Georgien vertrieben wurde. Diese Geschichte ist detailliert von Basili Esosmodsghwari, einem Chronisten im dreizehnten Jahrhundert, in seinem Werk »Das Leben der Königin und Herrscherin Tamar« niedergeschrieben worden. Der Historiker führt aus, wie ihre Tante und hohe Kirchenmänner einen Ehemann für die neunzehnjährige Königin auswählten. Königin Tamar hatte viele Bewerber – unter anderem natürlich im Byzantinischen Reich – doch fiel die Wahl auf den russischen Prinzen, den Sohn des Nowgoroder Großfürsten Andrej Bogoljubski, Juri, oder wie er in Georgien genannt wird, Giorgi. Komisch, dass man Prinz Juri auserwählte und keinen anderen, denn zur Zeit der Wahl gehörte ihm Nowgorod schon nicht mehr – die Großfürsten, die Bojaren, hatten seinen Vater, Andrej, umgebracht und verhinderten die Nachfolge Juris. Aber Tamars Tante Rusudan und andere, die großen Einfluss auf die junge georgische Regentin hatten, legten ein gutes Wort für Juri ein und, so schreibt Basili, verheirateten ihn mit Tamar. Tamar äußerte zwar Zweifel, ob es richtig sei, jemanden zum Mann zu nehmen, über den man so gut wie nichts wisse, beugte sich jedoch dem Willen der Mehrheit und willigte in die Heirat mit dem russischen Prinzen ein. Das ist eine aufregende und verworrene Geschichte, die viele Fragen aufwirft. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass der Chronist Basili diese erst nach Tamars zweiter Eheschließung mit Dawit Soslani niederschrieb und deshalb dem ersten Ehemann gegenüber umso kritischer war. Sei’s drum, Juri Bogoljubski ist jedenfalls der erste Russe, den es nach Georgien verschlagen hat, und da beginnt die tragische Geschichte der russisch-georgischen Beziehungen. Am Ende enttäuschte Juri die Erwartungen der Georgier: Basili Esosmodsghwari zufolge habe sich dieser durch Sodomie versündigt und sei dem Suff verfallen, streitsüchtig und vollkommen untauglich für den Königsthron gewesen. Ich habe dem noch hinzugefügt, dass er in der ersten Nacht nicht in der Lage gewesen sei, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen, und seine Lust auf andere Weise befriedigt habe.

      Sie: In welcher Form?

      Ich: Es ist eine Satire …

      Sie: Verstehe ich, aber vielleicht tut das der eine oder andere von unseren Lesern nicht. Also wie nun?

      Ich:


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