Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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»Ich hab nur seine Füße gesehen … Die Zehen schauten aus den zerrissenen Socken, weiter bin ich gar nicht reingegangen.« Er sagte das so, als ob am Tod dieses Mannes nur das »natürlich« war: eine zerrissene Socke.

      Die Unabhängigkeit wurde am Jahrestag meiner ersten großen »Urangst« erklärt – am neunten April. Einige Monate später, als in Poti am Schwarzen Meer die erste nationale Marinemeisterschaft feierlich eröffnet wurde, begann in Moskau ein Putsch und der auf der Krim festgesetzte Michail Gorbatschow wurde politisch kaltgestellt. Nicht umsonst hatte ich mit Eduard Schewardnadses Stimme vorhergesagt: »Die Diktatur kommt!« Plötzlich schien die Sowjetunion zurückzukehren.

      »Jetzt wird die Unabhängigkeit aufgehoben und unser armer Präsident festgenommen.« Unsere Nachbarin Tamara (eine von denen, die beim Zählen des Wunderheilers am schönsten einschliefen) war am Boden zerstört.

      Die Rückkehr der Sowjetunion währte nur drei Tage lang. Der Moskauer Putsch endete so schnell, wie er begonnen hatte, aber jetzt war Tbilissi an der Reihe: Neun Monate nach der Unabhängigkeitserklärung wurde in Georgien Krieg geschürt.

      Die Mitstreiter des Präsidenten und Rebellen legten innerhalb von vier Tagen den zentralen Prospekt in Schutt und Asche. Kaum zu glauben, dass auch jener Imitator ein Maschinengewehr trug, dessen Präsidentenparodie im Fernsehen unterbrochen worden war: »Wir sollten ihn am lebendigen Leibe in seinem Bunker schmoren!«, sagte er diesmal mit seiner eigenen Stimme. Der dreiundzwanzigjährige Rebellengeneral verkündete der Bevölkerung stolz, wenn der Präsident nicht zurücktrete, werde er das Regierungsgebäude mit Bomben bewerfen und das ganze Sololaki-Viertel in die Luft sprengen.

      Da die Rebellen das Rundfunk- und Fernsehgebäude eingenommen hatten, wurden die Sendungen in einem Bus aufgezeichnet, der im Hof des umzingelten Regierungsgebäudes stand. Aus diesem »Fernsehbus« beschimpften sie entweder haltlos die bis an die Zähne bewaffnete Opposition oder, nett ausgedrückt, deuteten den Zuschauern subtil an, welche Katastrophen der Umsturz der gesetzmäßigen Regierung zur Folge haben würde. Auf dem Rustaweli-Prospekt waren schon Schüsse gefallen, als der regierungstreue »Fernsehbus« uns eine amerikanische Verfilmung von Shakespeares »Julius Cäsar« präsentierte. Die Leute hätten normalerweise gleich erkennen müssen, wer Cäsar war und wer Brutus (der ehemalige Premierminister, jetzt Rebellenführer, von dem es hieß, er spritze sich Drogen ins Zahnfleisch), aber jetzt nahm keiner mehr die Allegorien wahr – im Stadtzentrum wurde scharf geschossen. Doch während die unterschwellige Botschaft von »Julius Cäsar« noch einigermaßen naheliegend schien, war die Ausstrahlung der Kinoversion von Giuseppe Verdis »Rigoletto« zwei Tage vor der Flucht des Präsidenten vollkommen rätselhaft. Was wollte man den Zuschauern damit sagen?

      Der Präsident des unabhängigen Georgiens floh genau an dem Tag, als die Sowjetunion offiziell aufhörte zu existieren.

      Drei Monate nach Ende des Tbilisser Krieges kehrte »meine Stimme« nach Georgien zurück und wandte sich noch am Flughafen an seine Unterstützer: »Als es notwendig wurde, nahm die Intelligenzija die Waffe in die Hand und verteidigte unter Einsatz ihres Lebens die Demokratie.«

      Als 1993 der achtmonatige Abchasienkrieg ausbrach und bei der Generation meiner Eltern Frustration auslöste, saß die Bevölkerung mehrheitlich wieder treu vor dem Fernseher und versuchte, durch den Konsum neu aufgekommener mexikanischer Seifenopern abgestumpfte Gefühle wiederzuerwecken. Die Serie »Auch die Reichen weinen« lief einen Monat länger als der Krieg, doch es war genau an dem Tag der Strom abgeschaltet, als sich das zerstrittene Ehepaar in der zweihundertfünfzigsten Folge versöhnen sollte. Der Strom fiel aus und wurde jahrelang nicht wieder angeschaltet, die vier Jahreszeiten traten außer Kraft. Überall lag der Geruch verbrannten Holzes in der Luft, und es wurde für lange Zeit dunkel. Das Baden entfiel für Jahre. »Meine Stimme« kam wie durch ein Wunder mit dem Leben davon: In den letzten Tagen des Abchasienkrieges wurde versucht, Eduard Schewardnadses Hubschrauber mit einem russischen Maschinengewehr abzuschießen. In Tbilissi wurde immer noch geschossen, denn jetzt hatte jeder eine Waffe.

      Jetzt war allen alles erlaubt.

      Sechzehnjährige Jungen brachten sich ebenso gegenseitig um wie ihre Väter. Mord als Nachahmung.

      Wir ahmten sie nur stimmlich nach – unsere Väter, Mütter, Politiker, Mörder, bekannte und unbekannte Menschen.

      Ich und der Präsident meiner Partei versuchten uns gegenseitig darin zu übertrumpfen, die Stimmen jener Mädchen zu imitieren, in die wir hoffnungslos verliebt waren.

      Das war eine traurige Imitation, weil wir versuchten, die unerwiderte Liebe mit den Stimmen der nicht in uns verliebten Geliebten zu kompensieren.

      Wir haben uns zwar mit den Stimmen der nicht in uns verliebten Geliebten amüsiert, aber wir konnten die Mädchen partout nicht in uns verliebt machen. Warum sollte man sich denn in einen Jungen verlieben, der die Geliebte und gleich noch deren Eltern und Großeltern mit grotesker Zwanghaftigkeit parodiert? Die nicht in uns Verliebten liebten andere: seriöse junge Männer, die seriös Männer parodierten, die älter und noch seriöser waren als sie selbst. Ihre Großmütter mochten uns, und es war gut, dass die uns mochten, weil die Großmütter über uns sprachen und ihre Enkelinnen das Lob hörten. Gelobt zu werden war wichtig. Wir brauchten Lob, konnten ohne Lob nicht leben. Wir brauchten Liebe, die Gewissheit, dass jemand, den wir liebten, von uns beeindruckt war. Zu dieser Zeit mochten die Mädchen unserer Meinung nach jedoch genau solche, die persönlich absolut keinerlei Eindruck hinterließen, aber in der totalen Auto- und Benzinlosigkeit ein Auto und Benzin hatten, und das war Eindruck genug. Wir sagten: Die wissen uns nicht zu schätzen, weil sie nur Automänner wahrnehmen können, moderne Zentauren, ernste sechzehnjährige Jungen, die den Kopf eines Menschen und den Körper eines Autos haben. Wir hingegen (die besseren Partien) liefen kilometerweit zu Fuß und gerieten entweder in die Schusslinie oder mussten vor streunenden Hunderudeln weglaufen. Des Öfteren begegneten wir in den Straßen einer zwanzig Mann – oder eher zwanzig Kind – starken verarmten, aggressiven Bande, von denen uns einer das Messer an die Kehle hielt und uns, sofern vorhanden, Kupons (provisorisches Geld) in Millionenhöhe abnahm. Hatte man nichts dabei, lief man Gefahr, verletzt oder gar umgebracht zu werden. Ich versteckte die Schallplattenhülle unter der Jacke, damit der darauf abgebildete Mann mit den Korkenzieherlocken kein Grund für Prügel werden könnte (Wolfgang Amadeus Mozart, Flute Concerto). Völliger Quatsch, sie überhaupt mitzunehmen, obwohl ich wusste, dass es nirgendwo Strom gab, und selbst wenn, wäre die Spannung tödlich niedrig gewesen, was bedeutete, die Schallplatte hätte sich unerträglich langsam gedreht, die schnellen Tempi an Qualität eingebüßt und der Klang wäre basslastig geworden. Meinem Nachbarn wurde die uralte »Abbey Road«-Vierer-Platte zerschlagen, ein anderer wurde wegen einer Kassette verprügelt, und ein sehr ehrwürdiger Mann wurde nur deshalb verdroschen, weil er mit dem Fahrrad vorbeifahren wollte, denn ein Fahrrad galt in dieser melancholischen Stadt als Provokation und Widerspruch.

      Das einzige Fortbewegungsmittel, welches in der chaotischen Nachkriegsstadt mehr oder weniger verlässlich funktionierte, war die Metro, allerdings sollte man sich, bevor man da hineinging, unbedingt mit Kerzen bevorraten, so wie das meine Großmutter zu tun pflegte, denn der Strom konnte jederzeit ausfallen.

      Ich bemerkte, dass meine Großmutter oft freudig zur Metro eilte, weil die zu Dutzenden stundenlang auf den Gleisen stehenden Züge ihr neue Kontakte ermöglichten.

      Es war besser, sich nicht vom Fleck zu rühren, denn Bewegung war gefährlich. Auf den Straßen liefen Tausende Abnormale herum, »Irre«, wie sie genannt wurden. Jeder wusste, dass es sie irgendwo gab und man sie hier und da antreffen konnte, aber niemand konnte genau sagen, wer diese Leute waren: Verwirrte, die aus der Psychiatrie entflohen waren, oder durchgedrehte Menschen, die nach dem Tbilisser Krieg verrückt geworden waren? Unsere Nachbarin war in einem Hof wie dem unseren von einem Mann überfallen worden, und wie das Opfer berichtete, wäre sie bestimmt erwürgt worden, wenn der über ihr wohnende alte Mann nicht beschlossen hätte, seinen Müll herunterzukippen. Der potenzielle Mörder wurde vom Lärm des Nachbarn verschreckt.

      Meine Mutter ging einmal mit meiner kleinen Schwester in der Nähe des Schildkrötensees spazieren und spürte plötzlich, dass sich hinter ihnen


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