Der erste Russe. Lasha Bugadze
noch die letzten Buchstaben …
Er ist betrunken …
»Versteht ihr mich? Also, wer …«
Utscha Utschadse wird vor unseren Augen vom Suff übermannt.
Was sollen wir ihm antworten? Was hat er uns gefragt?
Er schaut uns an.
Wir sagen nichts.
Wir haben nichts gelernt, ein Jahr vertrödelt, den Krieg nur im Fernsehen gesehen – und auch das nur in Ausschnitten, denn während des Abchasienkrieges läuft ja die mexikanische Seifenoper im Fernsehen. Der Afghanistankrieg ist Geschichte, der Zweite Weltkrieg war vor unserer Geburt zu Ende.
»Gut, alles klar.« Utscha Utschadse schaut zu Ziklauri.
Was ist klar?
Wieder fragt er etwas, was wir überhaupt nicht verstehen (beim letzten Mal hatten wir wenigstens »Waffenausbildung« verstanden). Der Mann schwankt. Ist schläfrig. Fällt vielleicht um.
»Antworten!«, fordert er.
Er wird aggressiv.
Witali Ziklauri schaut uns an, rot im Gesicht: Sein Eau de Cologne stinkt noch mehr, vielleicht wird der Geruch durch die Nervosität verstärkt.
Wir können keine Antwort geben, aber Utschadse lobt uns trotzdem: »Gut, bravo« – er schaut zum Oberst – »das sind gute Jungs …«
Wir haben nichts gesagt, aber die Antwort gefällt ihm trotzdem.
Scheinbar weiß er, dass der Zugführer Geld für den Oberst in der Tasche hat, jedoch weiß er nicht, wer der Zugführer ist.
»Krieg und Kampf sind Männersa…«, sagt er (er spricht das Wort nicht ganz aus: entweder ist er zu faul oder unfähig), »Georgier …«
Und Schluss.
Der oft besiegte General Utschadse setzt die Mütze auf und salutiert uns. Niemand hat uns gelehrt, wie man einem General salutiert, wir haben das nur in Filmen gesehen. Eingepackt in einen Schal und eine dicke Jacke stehen wir da und schauen den oft besiegten General an. Kann doch sein, dass dieser betrunkene General uns einen Befehl gibt: »Stellt sie alle an die Wand, auf der Stelle!« Keiner könnte ihn aufhalten. Er hat so viele psychische Traumata. Über ihn heißt es, er sei durch den Enguri geschwommen, die Kalaschnikow hochgereckt, damit sie nicht nass würde. Von ihm sei nichts zu sehen gewesen außer dieser Kalaschnikow. Munition hatte er auch keine mehr. Als er von den Kriegsverbrechen der Abchasen und Russen erfuhr, habe er auf den Tisch geschlagen und im Befehlston gebrüllt: »Mobilisiert die Luftwaffe!«
Auch damals war er wahrscheinlich betrunken gewesen: Hatte Georgien etwa jemals eine Luftwaffe?
Aber jetzt ist er zufrieden. Diesmal salutiert er uns mit der linken Hand und geht hinaus auf den Flur. Oberst Ziklauri folgt ihm, gibt ihm Begleitschutz. Er zieht das Bein leicht nach, jedoch nicht aus Lahmheit, sondern Gehorsam. Als wolle er Mitleid erregen.
Der Unterricht ist beendet.
Der Oberst kommt wenig später zurück. Er ist zufrieden. Hat immer noch gerötete Wangen. Vielleicht hat er auch mit dem besiegten General getrunken. Oder nur am Schnaps gerochen. Er sagte einmal: »Ich trinke keinen Schnaps. Wenn mir danach ist, benetze ich mir die Finger damit und rieche daran.«
»Zugführer, zu mir!«, ruft er mich.
Die Studenten merken: Ich soll dem Oberst die Opfergabe für die Noten geben.
»Herr Witali«, sagt ein Student, »ich hab es nicht dabei, Entschuldigung. Ich hab vergessen, dass heute Abgabetermin ist.«
»Was hast du nicht dabei, mein Junge?« Dem Oberst entgleisen die Gesichtszüge.
»Das Geld«, antwortet der Student.
Das hätte er nicht sagen sollen. Geld hätte er nicht erwähnen dürfen. Hier hätte niemand von irgendetwas wissen dürfen – weder vom Salutieren noch vom Vorbereiten der Gefechtsstellungen noch davon, dass wir Oberst Ziklauri Bestechungsgeld gegeben haben. Wissen hat hier genau nichts zu bedeuten.
»Wie kannst du es wagen!«, schreit Ziklauri, und plötzlich: »Nichtsnutz!«
Au Mann, denke ich, jetzt beschimpft er ihn bestimmt noch weiter.
Und wenn er ihn beschimpft, was soll ich da machen, ich als Zugführer?
Ziklauri hört nicht auf: »Du Lump!«
Ziklauri ist ein unflätiger Mensch.
Und was sehe ich da: Der Student, der noch vor wenigen Sekunden beunruhigt war, weil er das Geld nicht dabeihatte, holt ein Messer aus der Tasche und sagt ein paar Worte auf General-Utschadse-Art, leise und unverständlich.
Jetzt gibt es Krieg. Ich bin dabei, als der Krieg in unserem Hörsaal ausbricht. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. General Utscha Utschadse ist wahrscheinlich noch hier und kann dem Studenten, also meinem Truppenmitglied, und mir als Zugführer übel mitspielen. Utschadse ist zwar ein besiegter General, aber wir haben keinerlei Garantie, dass ihn unsere Truppe besiegen würde.
Der Student flucht leise, flüsternd, was noch viel unflätiger klingt als lautes Fluchen.
Oberst Ziklauris Gesicht nimmt eine grau-grünliche Farbe an …
Wird er einen Krieg vom Zaun brechen?
Oberst Ziklauri öffnet den Hosenknopf …
Was hat dieser Mann vor? Will er ihn auspeitschen?
Nein, er öffnet schnell den Reißverschluss …
Er steht seitlich, zieht die Hose leicht herunter und murmelt mit zitterndem Kinn vor sich hin: »Ich hab einen steifen Rücken, wegen euch kann ich kaum laufen …«
Oberst Ziklauri hat einen weiß-gelben Schal um den Rücken gewickelt … Ein alter, rückenschmerzgeplagter Mann …
Er tut uns leid.
Es bricht kein Krieg aus. Mein Truppenmitglied hat erfolgreich die Muskeln spielen lassen.
Das Geld wird mir später trotzdem abgeknöpft.
»Ach Mann«, sagt er und nimmt mir das Bestechungsgeld ab, »wir darben, was sollen wir machen? Die Zeiten sind nun mal so.«
Literarischer Abend. Die Rache am Geschichtsbuch
1992 begleitete ich meinen Vater zu einem literarischen Abend im ersten Gebäude der Staatlichen Universität.
Im Universitätsgebäude herrschte Eiseskälte, die Zuhörer waren eingehüllt in Mäntel und Pelze, die Männer – wenn nicht sogar alle Leute – trugen der damaligen Mode folgend unter der Hose noch eine Hose oder Unterhose, ganz zu schweigen von den Wollsachen, mit denen, wie böse Zungen behaupten, die geschickten Ehefrauen die intimen Körperteile ihrer Ehemänner umstrickten.
Es war egal, ob man im Gebäude war oder draußen, 1992, 1993, 1994 und 1995 herrschte überall die gleiche Eiseskälte. Erst recht in alten, hohen Gebäuden. In diesem Saal war schon seit Jahren nichts mehr passiert, was erwähnenswert gewesen wäre, wenn man vom spektakulären Auftritt des Philosophen Schawadse absieht, den dieser mit seinem Nachttopf auf der erweiterten Rektoratssitzung hingelegt hatte (jener Philosoph Schawadse, der den georgischen Philosophen ein dickes wissenschaftliches Werk hinterlassen hat: »Die Emanation des Lumpenpacks – wer ist wer in der georgischen Philosophie«). Der Philosoph hatte den Nachttopf geradewegs aufs Podium gestellt und sich laut an die dick in ihre Mäntel eingehüllten Professoren gewandt: »Das hier ist Scheiße, meine Herren, meine Scheiße, denn mehr haben Sie auch nicht von mir verdient! Hier, das ist Ihre Vergangenheit und das ist Ihr alter Ruhm!«
Als der Abend begann, fiel jedem diese Begebenheit ein, aber niemand hätte gedacht, dass auch ein Schriftsteller so etwas tun könnte. Die ehrwürdigen, durchgefrorenen Professoren, also die, denen noch der Geruch der Exkremente des Philosophen und Extremisten Schawadse in der Nase lag, besetzten Plätze in den vorderen Reihen