Der erste Russe. Lasha Bugadze

Der erste Russe - Lasha Bugadze


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Nachttopf gestellt worden war.

      Zwar redete der Großteil der georgischen Bevölkerung obszön daher, aber öffentliche Obszönitäten waren noch nicht die Norm.

      Zu jener Zeit war ich immer noch ein – objektiv betrachtet – sündloser Jugendlicher und hätte weder bestätigen noch abstreiten können, dass Sex in der Sowjetunion praktiziert wurde, aber wenn jemand das Wort Sex in den Mund nahm, konnte er in große Schwierigkeiten geraten und bekam die absurde Wut der Zuhörer zu spüren. Das würde jeder bestätigen, der seit den 30er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis in die Jahre 1992, 1993, 1994 und 1995 die Schule abgeschlossen hatte.

      Und siehe da, plötzlich trat in einem Saal der Staatlichen Universität ein Redner auf und fing an, Texte zu lesen, in denen gleich im ersten Satz deutlich und höhnisch dieses Wort zu hören war: Ficken.

      Dieses Wort vernahmen zuallererst die durchgefrorenen greisen Professoren in der ersten Reihe (manche hielten sich die Ohren mit dem Mantelkragen zu, manche zogen sich die dicke Mütze über den Kopf, und andere glaubten einfach, sie hätten sich verhört), aber der Text ging weiter und das Wort lag über dem gesamten Saal: Ficken. Ficken. Ficken.

      Erst fing eine alte Frau in der Ecke an zu kreischen, dann stieß jemand in den hinteren Reihen eine Art Verwünschung aus, ein junger Glatzkopf. Wie eine Welle durchlief ein Krampf die erste Reihe, und diejenigen Zuhörer, die Ruhe bewahrt hatten, schauten sich um: Wieder Extremismus? Wieder Beleidigung? Was hat man mit uns vor?

      Seufzer und aufgeregte Rufe waren zu hören. Wie Gewehrschüsse peitschten verbotene Informationen durch den Saal: Er hat diese gefickt, die hat jenen gefickt, und das wäre ja noch zu ertragen gewesen, hätte der Autor seine Obszönitäten nicht mit der erhabenen alten georgischen Sprache gemischt und uns verkündet, wer wen wo in Georgien fickte, als würde er ein in die Schulpflichtlektüre eingegangenes hagiografisches literarisches Denkmal lesen, zum Beispiel »Das Martyrium der Heiligen Schuschanik« aus dem fünften Jahrhundert.

      Ein Aufschrei ging durch den Saal, mir schien, als wischte sich ein Mann Tränen aus den Augen (weinte er etwa?), einige klatschten Beifall … Der Autor rief uns von der Bühne aus zu: Ficken, Ficken, Ficken!

      Sollte das schon erlaubt sein?

      Meine Großmutter und ich waren einmal ins Kino gegangen, in einen Film, den die meisten schon mehrmals gesehen hatten, denn damals war es normal, sich Filme mehrmals anzusehen. Es lief »Es war einmal in Amerika«, den offenbar meine Großmutter im Gegensatz zu mir eigenartigerweise zum ersten Mal sah, und bei der Szene, in der Robert De Niro das tut, was der extremistische georgische Autor mit einem obszönen Wort beschrieb, hielt sie mir so lange die Augen zu, bis die verstörende Episode vorbei war. Die Szene zusammen mit meiner Großmutter zu erleben war auch für mich kein Vergnügen, und ich hätte deswegen einen Streit vom Zaun brechen und ihre Hände wegschieben können, aber das tat ich nicht, weil ich erstens Angst vor einem leichten Familienskandal hatte und zweitens begriff, dass ich beim Spiel meiner Großmutter mitmachen musste, um einander die Peinlichkeiten von Anfang an zu ersparen. Gott sei Dank hat sie mich nicht gebeten, die Finger in die Ohren zu stecken.

      Als ich diese Begebenheit in ihrer Gegenwart meinem Vater erzählte, verteidigte sie, damit wir sie nicht der Verklemmtheit bezichtigten, ziemlich laut ihren Standpunkt und gab demjenigen, der es wissen wollte, zu verstehen, dass man schlau genug hätte sein sollen, seinen Enkeln beizeiten die Augen und Ohren zuzuhalten, »egal, ob sie so alt sind wie dieses Kind oder viel älter«, dann hätten sie sich nämlich nicht im Stil der Filmmörder gegenseitig auf der Straße umgebracht.

      Diesmal musste mir keiner die Ohren zuhalten – die Leute rannten nur in Scharen aus dem Saal. Als ob da ein Mörder auf der Bühne stände!

      »Worüber machst du dich lustig, du Missgeburt?«, schrie jemand vom Ende des Saales her. »Über unsere Geschichte? Unsere Sprache?«

      Die, die dageblieben und nicht fluchend davongerannt waren, fühlten sich alle merkwürdig glücklich, dass diese furchtbaren Wörter im frostigen, schäbigen Saal der Universität so laut und kategorisch zu hören gewesen waren. Als hätten die jahrelang verbotenen Wörter und die Wut ihre Daseinsberechtigung wiedergefunden. Dabei hätte ich mich eigentlich unwohl fühlen müssen, wie kurz vor meiner Ankunft hier, als ich mich beim Wasserballtraining in der Umkleide verspätete (wahrscheinlich hatte ich mich mit dem Fuß in der Hose verheddert oder die Badekappe nicht rechtzeitig gefunden) und der Trainer mich so laut rief, dass es das ganze Schwimmbecken hören konnte: »Was ist los, hast du etwa gewichst?« Als Antwort verkündete ich am selben Tag zu Hause, nie wieder zum Wasserball zu gehen (das war sowieso nur die nächste Idee meiner Mutter nach dem Weg der heiligen Nino gewesen, und ich konnte es kaum erwarten, mich vor dem Ganzen wieder zu drücken). Meine Mutter interessierte es außerordentlich, was mein Lehrer denn zu mir gesagt haben könnte, ich konnte mir aber überhaupt nicht vorstellen, den Wortlaut in ihrer Gegenwart zu wiederholen. »Sag es deinem Großvater«, schlug sie am Ende vor (ich dachte, was drängt sich diese Frau mir denn so auf), aber auch ihm gegenüber fiel es mir schwer, die Frage des Trainers zu wiederholen, nur dass mein Großvater mit seiner ihm eigenen kompromisslosen Art den Trainer sogar noch übertraf: »Hat er ›Ich ficke deine Mutter‹ gesagt?«

      »Nein …«

      »Hat er ›Ich ficke deinen Vater‹ gesagt?«

      »Nein, Opa …«

      »Hat er ›Fickt ihr euch in den Arsch?‹ gesagt?«

      »Oh Mann, natürlich nicht!«

      Ich kapierte nicht mal seine Fragen.

      »Was für einen Scheiß hat er denn zu dir gesagt?«

      Damit dieser Albtraum von Befragung endlich endete, musste ich den Grund meiner Aufregung offenbaren, deshalb überwand ich mich und wiederholte deutlich die Bemerkung des Trainers.

      Mein Großvater wurde nicht wütend, er gab nur einen kurzen, unklaren Kommentar ab oder eher einen Laut: »Oh.«

      Schon komisch, aber während mich jenes gar nicht mal so skandalöse Wort vom Schwimmbecken noch in die Flucht geschlagen hatte, fesselte mich diesmal die mittlerweile legitime und rückhaltlose Obszönität, das hundertmal ausgesprochene verbotene Wort an den Stuhl und faszinierte mich zudem dermaßen, dass ich bedauerte, nicht anstelle des Redners auf der Bühne zu stehen. Offenbar waren wir nicht gekommen, um einen literarischen Abend, sondern einen Racheakt zu erleben. Es stellte sich heraus, dass wir ein tödliches verbales Raketenabwehrsystem hatten: die grausame und bis zur Krankhaftigkeit aufrichtige Sprache, eine Waffe, die sich der Geschichte der Unterdrückung entgegenstellte.

      Niemand rührte den Redner an – es hätte ja jemand auf die Bühne stürmen und den Sprachbeleidiger mit einem Fußtritt runter in den Saal befördern können! Aber nein. Diejenigen, die dageblieben waren, schrien ihn an, ließen ihn aber bis zum Schluss lesen. Er harrte wie ein unantastbarer Heiliger vor einer riesigen Tafel aus (auf der ungeachtet dessen, dass es fast März war, geschrieben stand: »Liebe Studenten, wir wünschen euch ein gesundes neues Jahr«) und fuhr ungestört fort, uns zu beleidigen: »Ficken! Ficken! Ficken!«

      Denjenigen, die flohen, war klar, dass sie den zeitgenössischen georgischen Schriftsteller ein für alle Mal hassen würden; diejenigen, die blieben, waren so beflügelt, dass sie kilometerweit zu Fuß bis nach Hause laufen würden (was sie wahrscheinlich sowieso hätten tun müssen, weil es keinen Nahverkehr gab).

      »Mein Lieber«, mein Vater tippte dem Redner auf die Schulter, »das hier war ein längst überfälliger, ehrlicher Protest, eine der besten Aktionen der letzten Jahre! Hervorragend! Du siehst ja, wie die Leute durchdrehen! Die wachen erst auf, wenn die eine Ohrfeige verpasst bekommen.«

      »Das war meine Rache«, erwiderte er und wischte sich mit dem Handgelenk über die verschwitzte Stirn, »Zahn um Zahn. Wir wollen doch kein Maschinengewehr in die Hand nehmen!«

      Meine Tasche kommt aus der Röntgensicherheitskontrolle, ich stecke den Pass in die Hosentasche, fädele den Gürtel durch die Schlaufen und versuche, meinen Blick


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