Gefahr im Anzug. Gabriele Matzner
Im Badezimmerspiegel blickt ihm sein bubenhaftes rundes Gesicht treuherzig entgegen. Ach, ich werde es schon schaffen, lächelt er sich zu. Von Alfreds Selbstbewusstsein, Tatendrang und Ortskenntnissen werde ich mich inspirieren lassen. Bewundernswert, was der nicht alles tun will, damit die dürftigen Exporte aus der fernen Heimat sich demnächst vervielfachen! Bis in die obskursten Winkel des weiten und unwegsamen Landes hat er schon Betriebe und Bürgermeister aufgespürt und erklärt, was oder wo Österreich überhaupt ist. Denn schon lange hat man hier in Wo-sama-Damia nichts mehr von diesem Land gehört, seitdem das, was sich Entwicklungshilfe nannte, praktisch eingestellt wurde und sich wohlweislich kaum ein österreichischer Politiker mehr blicken lässt. Knapp an einer Lebensmittelvergiftung, einem Schlangenbiss und einem Zusammenstoß mit einem Lastesel ist Alfred bei seinen Erkundigungsreisen quer durch das Land vorbeigeschrammt, hat er leicht prahlerisch erzählt. Ferdinand ist voll der Bewunderung: Dieser Handelsdelegierte ist einer, der sich was traut! Vielleicht übertreibt er auch ein wenig, begackert Eier, die er erst legen muss, aber das gehört wohl zum Geschäft.
Es fallen ihm Berichte ein, die die väterliche Exzellenz mit mühsam kaschierter Wut am Familientisch von der Front der Kleinkriege zu geben pflegte, die er an diversen Dienstorten unermüdlich mit dem jeweiligen Handelsdelegierten ausgetragen hatte. Dabei hatte der Wüterich nicht selten zur Unterstreichung seiner kämpferischen Potenz ein unschuldiges Glas vom Tisch gefegt und die erschrockene Kinderschar schlussendlich in die Flucht getrieben. Schon wieder, hämmerte er beispielsweise auf die unschuldige Stoffserviette ein, hat dieser … – es folgte ein für Ohren botschafterlicher Kinder unpassender Ausdruck – hinter meinem Rücken einem Minister geschrieben, einem Minister! Da hört sich der Spaß auf, hatte der Vater angekündigt, der kommt noch in meine Gasse!
Was an einer Gasse schlecht sein sollte, selbst wenn es die väterliche war, habe ich damals nicht verstanden, später dann schon. Als ich selbst in diese Gasse kam. Da wurde mir auch klar, dass der Vater alles verstanden hat, nur keinen Spaß. Ein bisschen leid tut er mir schon, der Papa, vor allem seitdem er niemanden mehr herumkommandieren kann. Denn kaum hatte er ein Schlachtfeld erhobenen Hauptes verlassen, lauerte schon an der nächsten Biegung der vermeintlich geschlagene Feind schadenfreudig mit neuer Munition, etwa einer Einladung der lokalen Regierung, die nur er bekommen hatte. Lass dir ja nichts von denen bieten, hatte ihm der Alte geraten, im Grunde sind sie alle auf uns neidig, weil sie keine echten Diplomaten sind, auch wenn sie jetzt Diplomatenpässe haben, sie sind nur Handelsreisende. Dieses Wort hatte er immer wie ausgespuckt. Alfred wird keinen Grund haben, auf mich als Diplomat neidig zu sein, beschließt Ferdinand. Hoffentlich sieht Grete das auch so, Frauen sind ja oft ehrgeiziger und kämpferischer als die Männer, über die sie wachen.
Anregend und erholsam ist der Tag beim Handelsdelegierten gewesen. Und dann das! Wie ein Stück Treibholz hat er den Toten weggestoßen! Wieder einmal habe ich mich nicht durchsetzen können. Aber warten wir ab. Jetzt kann ich noch nicht um meine Einberufung ersuchen, das würde keinen guten Eindruck machen.
Ferdinand kramt in einem der im Schlafzimmer in Reih und Glied liegenden Koffer nach frischen Socken. Wollsocken? Brauche ich die in den Tropen? Habe ich das eingepackt oder war das Mama? Mit den durchfeuchteten Wollsocken in der Hand und Mama im Sinn überlegt er: Was würde sie zu dem Toten sagen? Womöglich ist er ein Auslandsösterreicher?, kommt ihm ein Gedanke. Das wäre natürlich viel Arbeit für die Botschaft, aber ich könnte mich bewähren. Der Minister würde vielleicht auf mich aufmerksam! Ihn habe ich bisher nur aus der Ferne oder im Fernsehen gesehen. Früher haben Außenminister die neu aufgenommenen Jung-Diplomaten empfangen, hat Papa erzählt. Aber diese gemütlichen Zeiten sind längst vorbei. Heute verschanzen sich Minister hinter Dutzenden Parteisekretären und PR-Agenten und selbst Sektionschefs haben es schwer, zu ihnen vorzudringen.
Aber Österreicher gibt es doch hier kaum zwei Dutzend, schiebt er den Gedanken beiseite, dass der Tote ein Auslandsösterreicher sein könnte. Außerdem, wer weiß, was den Zeitungsleuten bei uns einfällt, wenn es doch ein Österreicher ist? Womöglich lassen sie einen Tsunami der üblichen Diplomatenbeschimpfungen vom Stapel oder treiben das Ministerbüro mit dummen Fragen vor sich her und es hagelt parlamentarische Anfragen und Krisensitzungen in der Zentrale. Und wir an der Botschaft kommen überhaupt zu keiner vernünftigen Arbeit mehr.
Sein Blick fällt auf die Flecken strahlend blauen Himmels, die zwischen den Palmenwedeln vor dem Schlafzimmerfenster durchschimmern. Gut, dass heute Sonntag ist und Alfred mich auf den Ausflug zum Strand bei den Lagunen mitnimmt. Aber sollte ich nicht vorher in die Kirche gehen? Wie die meisten österreichischen Diplomaten ist Ferdinand katholisch fromm erzogen und geblieben. Ihr Diplomaten hättet alle besser Pfarrer werden sollen, hat ein Jugendfreund einmal gestichelt, als der mediengerecht langsame Tod eines Papstes im Amt eine Art Staatstrauer auslöste. Mit leicht schlechtem Gewissen beschließt Ferdinand, statt des Kirchenbesuchs ein Stoßgebet zu verrichten, in das er den Toten vom Kanal einbezieht.
In der noch frischen Morgenluft auf der Veranda löffelt er sein importiertes Müsli mit leicht ranziger Milch. Ein Grüppchen Graupapageien lässt sich frech auf der Balustrade nieder und beäugt ihn und sein Müsli. Ferdinand zwinkert ihnen zu. Das Hauspersonal würde sie jetzt wohl polternd verscheuchen. Gut, dass ich wenigstens einmal in der Woche allein bin, ohne diese Dienerschaft. Natürlich braucht man sie, vor allem wenn man Junggeselle ist und besonders in solchen Ländern, sagt Mama immer. Aber diese Einheimischen beobachten alles und tratschen es weiter. Bald weiß das ganze diplomatische Corps, dass man säuft oder gerne in der Nase bohrt. Und wenn sie dem lokalen Geheimdienst berichten müssen, erfinden sie alles Mögliche, nur um sich wichtig zu machen. In Nullkommanichts hat man den Ruf eines Homosexuellen oder Homophoben, eines Sittenstrolchs oder was auch immer.
In der ansteigenden Hitze stellt Ferdinand für die Gefiederten eine Schale Müsli auf den vom Wetter und Vorgängern in Mitleidenschaft gezogenen Verandatisch und macht sich zu Fuß auf den Weg zur Residenz des Handelsdelegierten. Wäre es nicht schön, wenn ich auch eine eigene Familie hätte? Aber welche Frau könnte mich schon wollen? So wie ich ausschaue, mit dieser beginnenden Glatze, den schlappen Muskeln und dem watschelnden Gang? Und bei meiner Schüchternheit? Bekümmert denkt er an die hektischen Flecken im Gesicht und die Schweißausbrüche an den Händen, die ihn schon beim geringsten Anlass heimsuchen.
Seine Gedanken schweifen in die Vergangenheit, während seine Blicke über die hinter bröckelnden Mauern nistenden mehr oder weniger stattlichen Villen schweifen, die seinen kurzen Gang zu Alfred säumen. Frauen, seufzt er. Da war bisher nicht viel Erlebtes, leider, ein bisschen was an der Uni in Wien. Sybille, dieser Engel, hat gar nicht bemerkt, wie sehr ich sie verehre. Und diese andere, wie hieß sie noch?, hat mich unter Alkohol gesetzt und meine Schwäche ausgenützt. Rückblickend erfassen ihn wohliger Schauer und schlechtes Gewissen. Was würde Mama zu diesem seinem bisher einzigen Sündenfall sagen? Zum Glück weiß sie nicht alles. Bald sollte ich ihr wieder schreiben, beschließt er seinen Rückblick und drückt sachte die Klingel neben dem dezent rostenden Gittertor der Residenz des Handelsmanns.
AUSFLUG
»Gehen wir fischen, Onkel?«, fragt Xandi aufgeregt, als sich die Familie des Handelsdelegierten und Ferdinand zum Aufbruch bereit machen.
»Wie kommt der Kleine auf Fischen?«, fragt er und verschlingt beflissen ein von Grete gebackenes und von ihr eindringlich angepriesenes Croissant.
»Das kommt wohl von unseren Urlauben in Kärnten«, grinst Alfred. »Wir sind dort jeden Sommer und da fischt er Babyfische aus dem See und will sie dann totmachen.«
Totmachen? Ferdinand verschluckt sich fast am fetttriefenden Croissant. Da ist das schlechte Gewissen wieder, nichts getan zu haben. Wer wohl den Rotschopf totgemacht hat?, schießt es Ferdinand durch den Kopf.
Selbstbewusst setzt sich der Handelsmann ans Steuer und sie machen sich auf den Weg zu den Lagunen. Schon nach wenigen Hundert Metern steht alles still.
»Heute ist doch Sonntag?«, wundert sich Ferdinand. »Wieso sind da so viele unterwegs?«
Nach einer guten halben Stunde Stillstand ergreift Grete, vom Gequengel der Kinder genervt, die Initiative. Sie lässt das Fenster herunter, brütende Hitze dringt ins Fahrzeug.