Norden. Sien Volders
Norden
There’s a land where the mountains are nameless,
And the rivers all run God knows where;
There are lives that are erring and aimless,
And deaths that just hang by a hair;
There are hardships that nobody reckons;
There are valleys unpeopled and still;
There’s a land – oh, it beckons and beckons,
And I want to go back – and I will.
ROBERT W. SERVICE
Silber
Vancouver, Februar 1982
Das Walzen des Silbers sollte ein Versprechen bergen. Jahrelang war das bei Sarah so gewesen. »Das Walzen des Silbers ist die Erwartung, das Hämmern die Bekräftigung.« So hatte ihr Lehrer es ausgedrückt, und so war es immer gewesen.
Sie drehte an der Kurbel und zog das Silberblech durch die Rollen, wieder und wieder, bis die gewünschte Stärke erreicht war. Das stetige, rhythmische Kurbeln, dann das Hämmern und die erste Handpolitur. Das Repetitive dieser Handlungen, die monotonen Geräusche, die sie erzeugten, versetzten ihre Gedanken in eine meditative Trance. Jede Drehung, jeder Hammerschlag drängte die Welt weiter in den Hintergrund, bis ihr Denken rauschfrei war.
An diesem Nachmittag nahm sie eine Halskette in Angriff, um den Sturm in ihrem Kopf zu beruhigen. Diesmal klappte es nicht. Das Walzen verlief stockend und das Hämmern nicht rhythmisch. Sie legte das Werkstück beiseite und machte mit der Gerätschaft das, was mit ihren Gedanken nicht gelang. Die Polierhämmer legt sie in Reih und Glied in die linke Ecke, die Sägen daneben. Den Brenner und die Handschuhe zusammen mit der Brille in die Mitte.
Als ihre verwitterte Werkbank perfekt aufgeräumt war, knipste sie die Schreibtischlampe aus und betrachtete sich im Spiegel. Den hatte sie hier aufgehängt, um die Stücke nach dem letzten Polieren zu begutachten. Wenn der Schmuck mit ihren Umrissen verschmolz, war er fertig, sonst machte sie weiter.
Heute wirkte der Blick in den Spiegel nicht befreiend. Sie sah nur die Linie zwischen ihren Augenbrauen. Die war neu.
Der Umschlag lag noch auf dem Küchentisch, wo sie ihn am Vormittag hingelegt hatte. Sie ging am Tisch vorbei zum Fenster, blickte in die Dämmerung. Als sie frühmorgens in Stiefeln durch den verschneiten Garten zum Briefkasten gegangen war, hatten zwei Briefe darin gelegen. Der eine in einer vertrauten Schrift, der andere auf dickem, teurem Papier. Die Einladung zu Anns Vernissage hängte sie an den Kühlschrank, danach öffnete sie zögerlich den zweiten Umschlag.
Ein Angebot. Sie wusste, dass es solche Angebote gab. Hätte sie jenen Weg weiterverfolgt, der an der Akademie gelehrt wurde, wäre sie eher darauf gefasst gewesen, ein solches Angebot zu bekommen. Hätte sie sich angepasst und sich jahraus, jahrein bemüht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber nicht jetzt. Nicht, nachdem sie ihren eigenen Weg gegangen war. Es war noch zu früh. Zu seltsam.
Draußen ragten die Sträucher wie dunkle Zeichen aus dem schmelzenden Schnee. Dahinter die verwitterte Holzgarage, deren Tor sich seit zwei Jahren nicht mehr richtig schließen ließ. Sie wusste, dass ihr Auto da stand, unter der grauen Decke. Es wartete. Sie war seit Monaten nicht mehr gefahren.
Erregung kroch ihr das Rückgrat hoch, ihre Nackenhaare stellten sich auf, ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. In der Diele schlüpfte sie in ihre Stiefel und legte sich den Mantel um die Schultern. So schwer sich die schlecht schließenden Garagentüren ganz öffnen ließen, so leicht glitt die Decke vom Auto. Im letzten Tageslicht war seine Farbe kaum zu erkennen, doch sie war auf der Stelle wieder hingerissen, wie beim ersten Mal, als sie ihn am Straßenrand gesehen hatte. Ihr Auto. Ein olivgrüner 1969er Dodge Challenger, rote Ledersitze, dreihundertdreißig PS.
Sie schob sich auf den Fahrersitz, spürte das eiskalte Leder durch die Kleidung, drehte den Zündschlüssel herum. Hustend und sprotzend erwachte der Wagen zum Leben. Die erste richtige Zündung war ein Vorspiel für das, was folgen würde.
Bald.
Morgen.
Dann kehrte sie ins Haus zurück und streifte ruhelos umher. Sammelte Sachen zusammen und warf sie in einen Rucksack, blieb zweifelnd vor dem Bücherregal stehen, griff nach dem Atlas und blätterte so lange, bis sie wusste, wo sie hinwollte.
Nordwärts.
Morgen.
1. Tauwetter
Forty Mile, Nordkanada, März 1982
Für Mary bedeutete Walkers Anruf zu Beginn des Frühlings dasselbe wie die erste Schneeschmelze für jeden anderen in Forty Mile: dass der Winter vorbei war. Dieses Jahr war Walker später dran als sonst.
Sie hatte angefangen zu warten, als die Sonne zum ersten Mal wieder auf die Dächer im Tal fiel, und wartete immer noch, als das Tauwetter kam und das Städtchen langsam und krachend aus dem Winterschlaf erwachte. Nur noch wenige Tage und das schmelzende Eis würde den Strom über Wochen in ein unbegehbares, unbefahrbares Niemandsland verwandeln und alles nördlich von Forty Mile von der bewohnten Welt abschneiden. Sie wusste, dass Walker das Tauwetter früher spürte als alle anderen, und machte sich keine Sorgen. Dann zog er ein Stück weiter auf dem letzten Eis nach Süden, verkaufte in Whitehorse seine Felle und die Arbeiten vom vergangenen Winter. Äxte und Messer, seine Schnitzereien. Er aß in der Stadt, trank und tanzte. Suchte sich eine Frau. Schlief. Danach rief er an.
Es war kurz vor sechs. Mary nahm den Besen und kehrte den alten Dielenboden zwischen den Regalen in ihrem Laden. Sie fegte den Schmutz zur Tür hinaus, über die Veranda, auf die Schotterstraße. Danach stapelte sie die Waren ordentlich, füllte, wenn nötig, die Vorräte auf und notierte sich die Bestellungen für den morgigen Tag. Auf der anderen Seite der Straße parkten die ersten Pick-ups vor der Kneipe gegenüber. In einer Viertelstunde begann die Happy Hour. Der Startschuss für den Abend.
Sie zählte das Geld in der Kasse und übertrug die Summe in ihr Heft. Dann nahm sie den alten Handbesen aus der Halterung und fegte die Ladentheke sauber. Sie lächelte. Seit hundert Jahren gab es den Kaufmannsladen schon, und die Einrichtung war unverändert. Dieselben Schränke, derselbe Fußboden, dieselbe Theke. Alles so alt wie die Stadt selbst. Als sie vor fast dreißig Jahren den Laden übernommen hatte, bot der frühere Besitzer an, die abgewetzte Holzplatte der Verkaufstheke auszutauschen. Sie hatte abgelehnt.
Mary hängte den Handfeger zurück, stemmte die Hände in die Hüften und streckte den Rücken durch. Stechende Schmerzen. Seit Ricks Tod fühlte sie sich alt. In diesem Winter hatte ihr Körper sie zum ersten Mal wissen lassen, dass das stimmte. Draußen dämmerte es schon eine Weile, sie sah ihre Spiegelung in der Scheibe der Ladentür. Immer noch schlank, nur hagerer. Die Haare genauso lang wie früher, aber inzwischen fast weiß. Mary war immer noch eine schöne Frau, fragte sich nur, für wen.
Als sie das Schild an der Tür umdrehte, Geschlossen, klingelte das Telefon. Ohne Eile nahm sie ab.
»Mary Calhoun, General Store, Forty Mile, guten Abend.«
»Marion.«
Sie schloss die Augen. Er war der Einzige, der sie noch so nannte.
»Walker.«
»Der Frühling kommt.«
»So ist das.«
Sie machten beide nicht viele Worte. Früher fragte er, wie Rick den Winter überstanden hatte, jetzt, wie es ihr ergangen war. Der Winter war mild gewesen. In der Stadt waren nur wenige Leute gestorben und auch die Pelztierjäger und Einsiedler in der Wildnis waren