Norden. Sien Volders

Norden - Sien Volders


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seinen Beitrag leisten musste.

      Nur noch wenige Monate und der kurze, heiße Sommer wäre da. Dann war im Städtchen und in der Natur drum herum am meisten los. Es waren die Wochen, in denen Gold gesucht und gefunden wurde, in denen die Glücksjäger vorbeizogen. Die Sommergäste, die seit Jahren kamen, kehrten wie späte Schwalben zurück. Jeden Herbst, jeden Winter, jedes Frühjahr spürten sie bis in die Knochen, wie der Norden rief und lockte. Die Täler und die Tundra, die Flüsse und die Stille. Die Leere, die niederschmetternd sein konnte. Der Hunger nach Einsamkeit und nach einem Leben in der Wildnis, der die meisten in diesem letzten Städtchen im Norden der bewohnten Welt stranden ließ. Forty Mile. Wo jeder rumhing, jeder fieberte. Wo man einander am Rand der Einöde fand. Wo Kameradschaft durch die knallharten Winter brachte und es immer und überall genügend Alkohol gab, um die eigene Ohnmacht wegzusaufen.

      Oben knarrte das Bett. Getrampel, kurz darauf sah Adam zwei bestrumpfte Füße die Treppe herunterkommen. In Unterhose und T-Shirt, die Augen noch verquollen vom Schlaf, warf Jacob ihm einen glasigen Blick zu.

      »Hm.«

      »Kaffee?«

      »Hm.«

      Nach ein paar Schlucken ging Jacob an Adam vorbei zur Spüle und hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Mit einem Handtuch rubbelte er sich Haare und Bart kräftig trocken.

      »Verdammt noch mal, Adam, du warst nicht auszuhalten, gestern.«

      »Hab’s mir schon gedacht. Entschuldigung.«

      »Entschuldigung? Hast du sie noch alle? Benimm dich einfach mal normal.«

      Bockig trank Jacob den Kaffee aus, schmierte sich ein Butterbrot und ging wieder hoch, um sich anzuziehen. Adam sah ihm nach und fragte sich, ob er heute so leicht davonkommen würde.

      Als Jacob wieder vor ihm stand, merkte Adam, dass es noch nicht vorbei war. Er schnappte sich schon mal seine Geige und zog auf die Veranda. Durch die Kälte waren seine Geige und Jacobs Banjo bereits nach drei Liedern total verstimmt, aber die Frühlingssonne draußen war wichtiger.

      Mit roter Nase und tränenden Augen spielten sie, bis ihre Finger taub waren. Dann verzogen sie sich kurz nach drinnen, um sich aufzuwärmen und die Instrumente zu stimmen. Nach dem fünften Stück verschwand der Ärger aus Jacobs Gesicht, das nahm Adams Scham die Schärfe, sie war nicht mehr so schneidend.

      Beim Spielen musterte Adam seinen Freund. Jacob war vier Jahre jünger als er. Wie viele andere war er zunächst nur als Saisonarbeiter nach Forty Mile gekommen, für einen Sommer. Gleich am Tag seiner Ankunft, irgendwann Anfang Juni, war er Adam über den Weg gelaufen. Die Folge waren drei Tage ununterbrochenes Feiern in der Kneipe, am Lagerfeuer, Bootsfahrten, Alkohol und vor allem viel Musik. Jacobs Banjospiel passte perfekt zu Adams Geige, und die Klangfarben ihrer Stimmen verschmolzen wie Zucker mit warmer Milch. Nach einem Monat ließ sich Jacob einen Bart wachsen und beschloss zu bleiben. Er bekam einen Job nach dem anderen, während sich Adam seit Jahren kaum über Wasser halten konnte. Dafür war Adam der bessere Musiker, das schon. Immer, wenn er einen Job in den Sand gesetzt hatte und nach der soundsovielten faulen Ausrede so gut wie pleite war, rettete ihn das gemeinsame Musizieren.

      Jetzt war es fast Frühling, und das Leben rief. Vielleicht würde ja diesmal alles anders werden. Vielleicht käme dieses Jahr alles ins Rollen. Heute Abend spielten sie das Eröffnungskonzert der Saison. Da kam die halbe Stadt, um sich den Winter aus dem Leib zu tanzen und zu trinken. Es war das letzte Wochenende, an dem die Kneipe das einzige offene Lokal in Forty Mile war.

      4. Zigaretten

      Mary arbeitete beständig weiter und ließ ihren Atem den Rhythmus bestimmen. Ein Holzscheit auf den Hackklotz, einen Schritt zurück, die Axt hoch in die Luft und den Scheit dann, ohne zu zögern, zerhacken. Das Splittern des Holzes als Auftakt zu einem jahrhundertealten Refrain.

      »Wird drinnen grade vorgelesen?«

      Am Tor stand der junge Jacob. Mary nickte. »Walker.«

      Sie lehnte die Axt an den Zaun, legte die Hände auf den Rücken und streckte sich. »Auf deine Zigaretten musst du warten, bis Dawkins fertig ist, Junge. Bereit für den Abend?«

      Sie plauderten, wie sie es oft taten. Ihre Worte bildeten Wölkchen in der Eiseskälte.

      Seine Einladung, abends in die Kneipe zu kommen, schlug sie aus. »Die Zeiten sind vorbei, Junge. Tagsüber trinke ich gerne mal ein Gläschen mit dir, aber abends in der Kneipe … Ich bin alt geworden, seit Ricks Tod.« Lächelnd holte sie Tabak aus ihrer Wolljacke und drehte zwei Zigaretten.

      Jacob zündete seine mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hätte ihn gern kennengelernt, deinen Rick.«

      »Er hätte dich sehr gemocht, Jake.«

      Ein Geräusch ließ sie beide aufschauen. Erst ein hohes, dröhnendes Sägen, dann lauter werdendes Bollern. Sie erblickten ein olivfarbenes Sportcoupé, das die letzten Meter auf der Straße aus dem Süden zurücklegte. Elegant und schnittig. Klein. Wie aus einer anderen Welt, hier zwischen den Pick-ups und Jeeps. Das Auto bremste vor Marys Laden. Wie Jacob beugte auch Mary sich vor, um den Fahrer zu sehen. Ein junges Mädchen. Oder eine Frau. Sonnenbrille, schwarze Locken.

      »Hm«, machte Jacob, »ganz schön früh im Jahr.«

      Die schönen jungen Leute kamen sonst erst im späten Frühling und blieben dann den Sommer über. Die junge Frau parkte.

      Sie hörten die Ladentür zuknallen, gefolgt von Dawkins’ Schritten auf der Veranda. Seine raue Stimme. »Mary!«

      Mary ging dem alten Mann entgegen, hakte sich bei ihm ein und führte ihn die drei Stufen runter, über die Planken bis zu seiner Haustür. Sie drehte sich um und zwinkerte. »Lass sie rein und hol dir deine Zigaretten, Junge. Und toi, toi, toi für den Auftritt heute Abend!«

      5. Jacob

      Sarah ging an dem jungen Mann vorbei, der ihr die Tür aufhielt. Sie sah sich um. Ein holzgetäfelter Raum, Schnitzereien an den Seitenwänden der Regale, die bis zur Decke reichten. Sie spazierte zwischen ihnen umher, musterte die Mischung aus Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen, die vergilbten Etiketten an den Regalen, die elegante Handschrift, in der die Artikel ausgezeichnet waren.

      »Ein wunderschöner Laden«, sagte sie dann. Sie kam zwischen den Regalen hervor und ging zur Verkaufstheke, wo er sie schon erwartete.

      »Der älteste Laden in der Stadt. Eines der ersten Holzhäuser, die hier gebaut wurden. Davor gab es nur Zelte und Baracken.«

      Sie standen sich gegenüber, die Hände jeweils auf der anderen Seite der Ladentheke.

      »Jacob, freut mich, dich kennenzulernen.«

      »Sarah, freut mich auch.«

      Sie sah Lachfältchen über seinem vollen Bart.

      »Für den Sommer bist du früh dran.«

      »Deswegen bin ich nicht gekommen.«

      »Aha.«

      Er nahm Zigaretten aus dem Schrank hinter der Theke, kramte Geld aus der Hosentasche und legte es in die Untertasse vor ihm.

      »Ich muss los. Mary ist gleich wieder da.« Er ging an ihr vorbei, drehte sich in der Tür noch einmal um: »Wenn du Lust hast auf ein Konzert heute Abend, komm einfach in die Kneipe gegenüber.«

      Sie nickte und sah ihm nach.

      Dann schweifte sie weiter zwischen den Regalen umher, nahm sich hier ein Brot. Fand da ein Glas Brombeermarmelade.

      6. Torun

      Mary zog das Gartentor hinter sich zu und ließ Frank aus seiner Hundehütte. Siebzehn war er inzwischen. Ein uralter, kleiner Foxterrier. Ricks Hund. Sie hatten es gut miteinander. Gemeinsam war der Verlust leichter zu ertragen.

      Er


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