Norden. Sien Volders

Norden - Sien Volders


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Straße schlängelte sich durch den Wald, führte manchmal ein paar Meilen geradeaus, bog vor einem gewundenen Fluss ab, folgte erst seinem Lauf und wich dann einem Bergkamm aus. Je weiter der Tag voranschritt, desto schneller fuhr sie. Hier bahnte sich der Frühling gerade erst seinen Weg durch den Schnee. Die Tundra lag vor ihr wie ein bizarres Schachbrett aus weißem Schnee und braunem Gras. Die Birkenwälder waren noch kahl. Zierliche weiße Stämme, geklöppelte braune Zweige drum herum.

      Außer ein paar Trucks gehörte die Straße nach Norden ihr allein. Der ganze Norden gehörte ihr allein. Ihre Finger trommelten auf den Lenker, ihr Kopf nickte im Takt des synkopierten Geschreis des Sängers.

      Hin und wieder zwang sie sich, an den Brief und das Angebot zu denken, an die Entscheidung, die zu Hause auf sie wartete. Sie legte die Möglichkeiten nebeneinander. Es gelang ihr nicht, hartnäckige Hintergedanken zu verdrängen. Doch die Landschaft rief, und bald ließ sie den Blick wieder über das Flachland und die Berge schweifen.

      Vier Stunden später war das Frühstück verdaut und ihr Magen knurrte wieder.

      Ein Truck stand an der Tankstelle. Sarah blieb im Auto sitzen, bis der Fahrer zurückkam, einstieg und davonfuhr. Dann tankte sie und ging ins Gebäude. Es roch süß, nach Kuchen. Altem Kaffee. Motoröl und Pisse. Schon beim Aussteigen hatte der Tankstellenbesitzer sie vom Fenster aus beobachtet. Er verfolgte jede ihrer Bewegungen.

      »Allein unterwegs?«

      Sarah sah ihn an. Schäbig, dickbäuchig und in einem schmuddeligen Blaumann. Sie nickte und fragte, ob es eine Toilette gebe. Grinsend deutete er mit dem Kinn in die hintere Ecke.

      »Mach dich auf was gefasst, Miss.«

      Das Klo war schmutzig und stank, doch es kam gelegen.

      Zurück in der Tankstelle, ließ sie sich Zeit. Sie nahm noch etwas Wasser, Schokolade, Dörrfleisch und Rosinen, trödelte vor dem Presseregal. Fernsehzeitschriften, zwei Zeitungen und viele Sexheftchen. Eine Vogue von vergangenem Jahr. Sie legte den Kopf schief, zögerte. Schaute zu dem Mann hinterm Schalter. Er beobachtete sie immer noch. Einen Moment lang war es ihr peinlich, dann riss sie sich zusammen. Sie legte die Dinge, die sie gerade aus den Regalen genommen hatte, auf die Theke, griff nach dem Magazin und blätterte darin, bis sie die Werbung der Schmuckfirma gefunden hatte. Eine Doppelseite, ziemlich weit vorne.

      Sie seufzte.

      Die Marke stand in Großbuchstaben darüber, im Übrigen sollte man anscheinend nur auf das Model achten. Das rekelte sich nackt auf einem Bett, halb unter einer Pelzdecke, mit schwülstigem Blick. Das Schmuckdesign fand sie nicht schlecht. Aber wie immer waren die Edelsteine zu protzig. Sie musste lange suchen, bis sie den Namen des Designers fand. Ganz unten rechts auf der Seite, in kleinen Lettern.

      Aha.

      War es das, was sie wollte?

      Sie seufzte erneut und legte das Magazin zurück ins Regal. Bei der Kasse fragte sie, ob sie einen Kaffee bekommen könnte.

      »Aber sicher.« Der Mann nahm einen Becher aus dem Regal hinter sich und schenkte ihr Kaffee aus der großen Thermoskanne auf der Ladentheke ein.

      »Schickes Auto, Miss. Wo kommst du her?«

      »Vancouver.«

      Der Mann legte den Kopf in den Nacken, musterte sie. Schaute wieder zum Auto. Er hielt die Zuckerdose hoch, sie schüttelte den Kopf.

      »Wie viele Tage?«

      »Mit heute eine Woche.«

      »Schicke Karre. Von deinem Alten bekommen?«

      »Gekauft. Wollte ich schon immer haben.«

      Der Mann schaute nochmals zum Auto. »Wie hat es sich in den Rockies gemacht?«

      »Prima. Ist gut hochgekommen. Herrlich in den Kurven. Wie ist der Rest der Strecke?«

      Der Mann kratzte sich den Nacken. »Geht so. Mach dich auf ein paar Kratzer gefasst. Nur noch ein paar Meilen, dann ist der Asphalt zu Ende. Permafrost. Alles Harte macht der Frost sowieso kaputt. Gute Straße, aber Schotter. Schade um den Lack. Zweihundertneunzig PS?«

      »Dreihundertdreißig. Es ist der Vierzylinder.«

      »Hmm. So schöne Autos sieht man hier selten.«

      Sie trank den Kaffee aus, zahlte und verabschiedete sich.

      Als sie bei der Tür war, rief er ihr noch etwas hinterher.

      »Vorsicht in der Dämmerung, Miss, du willst keinen Elch auf der Windschutzscheibe!«

      Sarah legte ihren Einkauf ordentlich auf den Beifahrersitz und hupte zum Abschied. Im Rückspiegel sah sie den Mann in der Tür stehen. Er hob die Hand.

      Noch hundert Meilen.

      3. Kaffee und Scham

      Adam stieg die Stufen zu Jacobs Haus hoch. Seit die Sonne wieder ins Tal und auf die Veranda schien, traf man ihn und Jacob kaum mehr woanders an. Jacob meistens in dem abgewetzten Sessel, eine Decke auf dem Schoß, und der lange Adam mit einem Bein über dem Geländer, an einen Pfeiler gelehnt. Äußerlich waren sie gegensätzlich. Adam groß, mager und blond, Jacob klein, breitschultrig und dunkel. Beide trugen einen wilden Bart.

      Den ganzen Weg von der Kneipe bis zu Jacobs Haus hatte Adam sich den Kopf darüber zerbrochen, was gestern Abend passiert war. Er brachte keinen logischen Ablauf zusammen. Er hatte rumgeschrien, das wusste er. Vielleicht hatte er sich sogar geprügelt. Er nahm den Geigenkoffer in die andere Hand und schob die freie Hand in die Tasche, zum Aufwärmen. Die altbekannte Scham bahnte sich ihren Weg zu seinem Magen. Es wäre hilfreich gewesen, zu wissen, wie die Nacht geendet hatte. Doch er wusste nur, dass er in einem Zimmer über der Kneipe aufgewacht war.

      Es wollte ihm nicht einfallen. Nichts Neues, aber trotzdem ärgerlich. Weil es gerade mehrere Wochen gut gegangen war. Und er jetzt keine Ahnung hatte, wie Jacobs Laune sein würde. Am Abend hatten sie einen Auftritt, da wäre eine gewisse Harmonie schon förderlich.

      Adam klopfte, wartete eine Weile und trat dann ein. Hinter dem Küchentisch hörte er das Ticken und Klackern von Krallen auf dem Holzboden. Muddy kam auf ihn zugestürmt. Streichelnd und flüsternd versuchte er, seinen Labrador zur Ruhe zu bringen. Er sah sich um. Jacobs Schuhe lagen neben der Tür, seine Jacke hing über einem Stuhl neben dem Küchentisch. Oben war noch nichts zu hören. Adam zog die Schuhe aus und ging zum Herd, um Kaffee aufzusetzen. Er pustete sacht, bis die schwelenden Kohlen wieder aufglommen.

      Jacobs Haus war klein und schmal. Ein rotes Holzhaus mit weißen Regenrinnen, einer kleinen Veranda und einem verwilderten Stück Land drumherum. Vor drei Jahren hatte Jacob es selbst gebaut, von dem Geld, das er hier im Norden verdient hatte. Es war ein einfaches Haus. Unten gab es eine Küche und genau ausreichend Platz für einen Tisch, vier Stühle und den großen Sessel, in dem Adam normalerweise schlief. Muddys Korb stand neben dem Ofen. Von der Küche führte eine Treppe nach oben ins Schlafzimmer.

      Das Haus lag am südlichen Ortsrand, etwas oberhalb der anderen Häuser. Hinterm Gartenzaun begann die steile Bergwand, die Forty Mile begrenzte und das Städtchen gegen die Mündung beider Flüsse drängte.

      Adam schenkte sich einen Becher Kaffee ein, zog die Jacke aus und lehnte sich auf einem Küchenstuhl zurück. Muddy legte ihm den Kopf in den Schoß.

      Sich aus dem Winterschlaf zu reißen, fiel ihm mit jedem Jahr schwerer. Er war vierunddreißig Jahre alt, doch der Norden und der Alkohol hatten ihn rasch altern lassen. In diesem Winter hatte es sich zweimal in seinem Kopf verfinstert und er war von Jacob weggegangen, hatte sich ein Zimmer über der Kneipe genommen. Beide Male stellte ihm Jacob wochenlang jeden Tag einen Teller mit warmem Essen vor die geschlossene Zimmertür. An manchen Tagen schaffte Adam es nicht einmal, die Tür zu öffnen. Wenn der Teller länger als vierundzwanzig Stunden stehen blieb, ersetzte Jacob ihn durch einen neuen.

      Diese langen Phasen von Suff und Dunkelheit im Winter hatten nichts zu sagen, nicht gezwungenermaßen. Im Moment fürchtete sich Adam eher vor den anderen Jahreszeiten.


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