Norden. Sien Volders

Norden - Sien Volders


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Konzert gesprochen hat.«

      »Typisch!« June stieß mit Sarah an. »Jacob ist einer der Klügeren hier. Er weiß, wann es Zeit ist, für eine Weile aus Forty Mile wegzugehen. Wenn die Abgeschiedenheit zu groß wird, die Welt zu klein …«

      »Und du?«

      June grinste.

      »Ich gehöre natürlich auch zu den Klügeren. Ich wohne seit über zehn Jahren hier und weiß, wann ich mal ausbrechen muss.«

      »Und der andere Musiker?«

      »Adam? Um Himmels willen, nein. Wenn der nicht aufpasst, wird der Norden noch sein Tod.« Sie schaute zum Tisch hinten in der Ecke. »Hast du den alten Mann gesehen, der gerade reinkam? Das ist Willy Bowskill. Alle Musiker, die hierherkommen, wollen mit ihm spielen. Er wohnt am anderen Ufer, aber immer, wenn das Eis beim break-up schmilzt, ist er für eine Weile hier. Manchmal können Adam und Jacob ihn dazu überreden, mit ihnen zu spielen, aber eher selten. Das sind die besten Abende.« June trank ihr Glas aus und machte dem Barkeeper ein Zeichen, zwei weitere Biere zu bringen. »Mit etwas Glück wird der heutige Abend also unvergesslich.«

      Sarah musterte die Leute um sie herum. Der Geräuschpegel stieg. June setzte ihre Erzählung fort, redete zwischendurch auch mit den anderen, die kamen, um sich etwas zu trinken zu bestellen. Im Spiegel ihr gegenüber sah Sarah, wie der blonde Musiker, Adam, zur Theke kam. Er trat zwischen sie und June und bestellte drei Whiskys. »Große! Ohne Eis. Und schenk den Ladys hier auch was ein.«

      June fragte, ob sie Willy schon rumgekriegt hätten.

      »Ich arbeite daran.« Dann blieb Adams Blick eine Weile an Sarah hängen. »Ha!« Nach diesem Ausruf stob er davon.

      June warf ihr einen Blick zu. »Der führt was im Schilde, scheint mir.«

      Das Stimmengewirr hinter ihnen wurde lauter, die Leute erhoben sich und strebten zur Bühne hinten in der Kneipe. Sarah sah Willy hinaufsteigen und eine Gitarre von der Wand nehmen. Er legte sich den Gurt um den Nacken, trat an den Rand und räusperte sich.

      »N’Abend, alle Mann. Ich hatte heute Abend nicht vor zu spielen, aber Young Adam hier will ein neues Mädchen beeindrucken, also …«

      Lachen rollte durch die Menge, June klopfte Sarah auf den Rücken.

      »Auf die Liebe!«, schrie Willy und setzte mit einem fetten Blues-Solo ein.

      Der alte Mann hatte eindeutig die Führung. Er bewegte sich kaum, nickte nur rhythmisch mit dem Kopf. Er stand da, ein Bein gebeugt, die Gitarre weit unten auf dem Bauch, der Gitarrenhals ragte steil nach oben. Ein Hochziehen seiner buschigen Augenbrauen, eine Bewegung des Kinns, und das Tempo wurde erhöht. Das Singen überließ er Jacob und Adam, er brummte nur bei manchen Stücken in einem tiefen Bariton. Ganz selten mal murmelte er einen Sprechgesang zu seinen eigenen Solos. Jacob spielte Banjo und sang, konzentriert, mit hochgezogenen Schultern. Auf der anderen Seite von Willy stand Adam. Er wechselte zwischen Geige und Mundharmonika hin und her und bewegte sich viel wilder. Er stampfte im Takt mit dem Fuß, wiegte sich hin und her und genoss den Auftritt sichtlich, während Jacob sich offenbar große Mühe geben musste, hinterherzukommen. Doch die beiden jungen Männer waren gut aufeinander eingespielt. Ihre Stimmen verschmolzen zu einem flehenden Duett.

      Nach der Hälfte des zweiten Sets tanzte das halbe Lokal. Es war ein ständiges Kommen und Gehen an der Theke. Die Leute holten Bier und Whisky für sich selbst, aber auch für Willy. Sie stellten eine immer länger werdende Reihe von Gläsern vor ihn auf die Bühne. Immer wieder hielt Adam Sarahs Blick fest.

      Nach zwei Zugaben fand Willy, dass es jetzt genug war. Er löste sich aus seiner vorgebeugten Körperhaltung, hob zum Abschied die Hand und wurde wieder der alte Mann, der er beim Reinkommen gewesen war. Er winkte die beiden jungen Männer zu sich und gab jedem zwei der Whiskygläser, die vor ihm auf der Bühne aufgereiht waren. »Nicht schlecht, Jungs, nicht schlecht.« Seine Stimme übertönte den Applaus.

      Der Schweiß stand noch auf Adams Stirn, als er Sarah nach dem Auftritt begrüßte. Sie unterhielten sich. Oberflächlich, aber nicht unbehaglich. Er erzählte genug, um ihre Neugier zu wecken. Den ganzen Rest des Abends war sie von einem fröhlichen Gedränge umgeben; Adam und June blieben die ganze Zeit bei ihr, Jacob tauchte immer mal wieder auf.

      Als sie Anstalten machte zu gehen, gab es lauten Protest. Sie winkte nur, verabschiedete sich kurz: »Bis morgen.« Auf dem Weg zur Tür hielt Adam sie rasch am Arm zurück.

      »Schläfst du nicht hier oben? Du willst doch sicher nicht im Auto übernachten, bei dem Wetter?«

      »Nein, gegenüber, bei Mary.«

      Sie ließ sein Staunen in der Trunkenheit und dem Stimmengewirr um sie herum verklingen.

      8. Gemälde

      Durch das Fenster sah Sarah das Wohnzimmer im warmen Schein des Ofens und einer Leselampe aufleuchten. Sie wusste nicht, wie leise sie sein sollte, versuchte zu hören, wie laut ihre Schritte waren. In ihren Ohren dröhnte es noch vom Kneipenlärm.

      Die Wohnzimmertür stand offen. Vor dem Kamin ein gusseiserner Ofen, davor wiederum ein großer Sessel und zwei Lehnstühle. Elegant, mit geschnitzten Armlehnen und Beinen, einem fahlgrünen Samtpolster. Auf dem Sessel lag ein dunkles Fell. Sarah trat näher und bemerkte, dass der Kopf noch dran war. Ein Bärenfell. Sie streckte die Hand aus und strich darüber. Kräftiges, dickes Haar, doch darunter war es erstaunlich weich. Ruppig und flauschig zugleich. In dem Zimmer standen zwei große Bücherregale. Französische und englische Romane, viele Kunstbände. Sarah erkannte drei Buchrücken, lächelte, es waren Werke von Thor Heyerdahl. Vorsichtig nahm sie eines vom Regalbrett. Fatu Hiva. Derselbe orangefarbene Einband wie bei ihrem Vater. Bei ihm hatte das Buch brüderlich neben dem alten Exemplar ihrer Mutter gestanden, dem norwegischen Original aus den dreißiger Jahren.

      Sie schnupperte daran. Holzfeuer und altes Papier. Auf dem Vorsatz stand in eleganter Schrift ein Name. Marion Goodwin. Sie stellte das Buch wieder zwischen die anderen zurück.

      An der Wand hingen Jagdtrophäen. Als Sarah sie sich näher ansehen wollte, hörte sie Geräusche aus der Küche. Mary trat in die Tür, eine Flasche Wein und ein Glas in der Hand.

      »Hallo, Sarah, nimm dir ein Glas aus dem Geschirrschrank, wenn du Wein möchtest, und komm zu mir.« Mary setzte sich in den Sessel mit dem Bärenfell, unter die Leselampe.

      Kurz bevor Sarah sich einschenkte, hielt sie inne. »Wein ist doch sicher eine Seltenheit, so weit oben im Norden?«

      »Es hat viele Vorteile, hier einen Lebensmittelladen zu haben. Darunter den, dass ich mir so manchen Luxus nicht abzugewöhnen brauchte.«

      »Du bist also nicht hier geboren?«

      Mary lachte. »Hier wird fast niemand geboren.«

      »Warum?«

      Mary zuckte mit den Schultern und schaute ins Feuer. Sagte dann, in Forty Mile kämen kaum Kinder auf die Welt, und es würden schon gar keine hier gezeugt.

      Sarah sah sie ungläubig an.

      »Hier wird niemand schwanger. Seit fast hundert Jahren gibt es die Stadt, und noch nie wurde ein Kind hier gezeugt. Manchmal werden Kinder hier geboren, aber gezeugt werden sie immer woanders.«

      Mary erzählte ihr vom sogenannten Fluch der Ersten Völker. Schon seit Anbeginn der Zeiten hätten die hier im Sommer ihre Jagdgründe gehabt, am Zusammenfluss beider Flüsse. Dort fingen sie Fisch und trockneten ihn, dort hielten sie große Hochzeitszeremonien ab. Doch dann hatten die Trapper unweit ihrer Niederlassungen Gold gefunden, und nicht einmal ein Jahr später waren die alten Jagdgründe von Zehntausenden Menschen überschwemmt. Der unberührte Norden war schlagartig allgemein bekannt. Da hätten sich die ursprünglichen Einwohner entschieden, ihre Jagdgründe zu verlassen, aber unter einer Bedingung: Dass man sie noch weiter nördlich in Ruhe ließ. Pakte wurden geschlossen, Verträge unterzeichnet, es floss kein Tropfen Blut. »Seither werden hier keine Kinder gezeugt. Der Legende nach sind die neuen Bewohner mit Unfruchtbarkeit bestraft


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