Norden. Sien Volders
Forty Mile, vor ihnen die Weite des Nordens. Unendlich viele Berge, von ihnen getrennt durch den breiten, von Ost nach West fließenden Strom, der als immer schmaler werdendes silbernes Band in der Ferne verschwand. Um sie herum das Brausen des Windes, sonst nichts. Außer der Stadt unter ihnen weit und breit keine Spur menschlichen Lebens. Keine Straße, kein Boot, kein Haus, kein Rauch.
Adam breitete die Arme aus. »Der Horizont aller Horizonte.«
Er trat an den Rand des Plateaus, das letzte Stück vor dem steilen Abgrund. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, sein Herz raste. Wild. Magnetisch. Sein Norden.
Er schaute über die Schulter zurück. Sie hatte sich auf dem Boden niedergelassen und betrachtete die Landschaft. Er ließ sich neben sie fallen. Im Schneidersitz berührte sein Knie ihres.
Muddy setzte sich neben Sarah und legte ihr den Kopf in den Schoß. Lächelnd beobachtete Adam seinen Hund. »Eigentlich will sie nie was von Frauen wissen.«
Sarah streichelte den Hund. Der große schwarze Stein an ihrem Armband drehte sich zur Seite, und Adam griff nach ihrem Handgelenk, um ihn wieder zurückzuschieben.
Der Wind kühlte ihre schweißnassen Rücken schnell ab. Bedauernd sah Adam den tiefen Ausschnitt ihres T-Shirts wieder unter ihrem dicken Baumwollpulli verschwinden.
Sarah kam auf die Knie und zeigte nach Norden. »Und da ist also … nichts?«
»Da ist alles. Nur keine Menschen.« Als er merkte, wie beeindruckt sie war, erzählte er weiter. Davon, dass genau das ihn vor Jahren angelockt hätte.
»Mein Gott. Adam. Es ist einfach zu groß.« Es sei beängstigend, sagte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand dorthin zog wie früher die Trapper, lange vor den Goldsuchern. Mutterseelenallein in die Wildnis des Nordens. Ohne jeden Weg, also auch ohne Weg zurück. Es war so leer, so gottverdammt, gottvergessen leer. Bis Whitehorse gab es noch kleine Städte, Dörfer, vereinzelte Bauernhöfe. Danach war Schluss.
»Dass es nur Forty Mile gibt und danach aufhört, das ist einfach … unheimlich. Es ist so gewaltig, tausendmal eindrucksvoller, als ich es mir vorgestellt hatte, aber jetzt schreit alles in mir, dass ich lieber wieder runtergehen will, zurück in die kleine Stadt, um zu vergessen, wie groß hier alles ist.«
Adam zeigte in die Ferne. »Es hört nicht auf«, sagte er sanft. »Es wird schöner.« Er erzählte ihr, da wäre sehr wohl noch Leben, den ganzen weiten Weg bis zum nördlichen Polarmeer, in den wenigen Dörfern und Niederlassungen der Ersten Völker. Dort würden die letzten Musiker leben, die noch jene Musik spielten, für die er in den Norden gekommen war. Athabaskische Musik. Die Geigenlieder, die die ersten Trapper vor über hundert Jahren aus ihren irischen und schottischen Häusern und Herbergen mitgebracht hatten. Die Ureinwohner hätten die Lieder damals aufgeschnappt, und diese wären mit der Musik von hier verschmolzen.
»Im Rest der Welt sind die alten Lieder verschwunden, man spielt jetzt anders Geige, und die Tänze sind in Vergessenheit geraten, aber hier, hier lebt die Musik noch so weiter wie vor hundert Jahren.«
Sarah schaute von seinen Händen zum Horizont. »War das die Musik, die du gestern mit dem alten Mann gespielt hast?«
»Nein, gar nicht. Willy spielt alten Blues und Bluegrass, und keiner kann es besser als er. Er ist unglaublich. Er ist schon mit zwölf in Blueslokalen aufgetreten. Der Kerl atmet Musik, Sarah, er spielt im Schlaf. Lange bevor wir hergezogen sind, haben Jacob und ich uns seine Platten so oft angehört, bis sie nur noch knisterten. Aber das, was er spielt und wie er es spielt, hätte es nicht gegeben ohne das, was hier noch lebt. Die Musik, die wir gestern gespielt haben, ist zwar auch alt, aber irgendwo dort hinten sind Wurzeln lebendig, die noch älter sind.«
Er zeigte in die Ferne. »Die Trapper, die in den Norden gezogen sind, haben nur mitgenommen, was sie selber tragen konnten. Aber trotzdem haben einige ihre Geige hergeschleppt. Hunderte von Meilen tief ins Land. Und sie haben Musik mitgebracht, Lieder, die es sonst nirgends auf der Welt noch gibt. Nur hier, weil danach nie etwas anderes gekommen ist und sie deshalb nicht in Vergessenheit geraten konnten.«
»Aber was ist mit den vielen Goldsuchern, später?«
Er zuckte mit den Schultern. »Die sind nur bis Forty Mile gekommen, nie weiter. Das Land hier ist unbarmherzig, Sarah. Sie wollten überleben, um Gold zu finden, für sie gab es nie einen Grund, weiter nach Norden zu ziehen.« Adam lächelte ihr zu. »Ich habe am Royal Conservatory in Toronto Geige studiert. Jahrelang acht Stunden am Tag geübt, manchmal noch länger. Die Musik hat mich genährt, sie hat mich erfüllt, mir alles gegeben, was ich glaubte zu brauchen. Bis ich auf einem Festival diesen alten Geigenspieler hörte. Er war gekommen, um die Interessen seines Volkes bei den ersten Gesprächen über Selbstverwaltung und Landforderungen zu vertreten. Ich war da, weil ich die Reden hören wollte. Und dann hat er gespielt. Es war, als ob er mein Herz aufreißen und in den tiefsten Tiefen meiner Seele wühlen würde. Nicht mal vier Wochen später habe ich das Konservatorium an den Nagel gehängt und bin hierhergezogen. Seiner Musik hinterher. Meine Eltern haben es nicht verstanden. Meine Lehrer noch viel weniger. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich da hinkomme. Das erreiche.«
Sarah setzte ein paar Mal zum Sprechen an. Dann fragte sie, ob sie nicht lieber zu den anderen zurücksollten. Adam erhob sich und zog sie hoch. Als sie wieder stand, fiel ihm auf, wie viel größer er war. Hätte er den Kopf gebeugt, hätte er die Wange auf ihren Scheitel legen können.
Sie behielt seine Hand länger in der ihren als nötig.
10. Tanz
Die folgenden Tage vergingen wie im Flug. Da gab es viel Zeit allein, viele Spaziergänge am Wasser und an der Felswand. Die Wildheit von Forty Mile überraschte Sarah immer wieder. Die Kneipe war das Herz der Stadt, es schlug Tag und Nacht. Obwohl die meisten Einwohner arbeiteten, schienen sie immer Zeit zu haben, zu trinken und zu feiern. Straßenarbeiten, eine Anstellung in der Verwaltung, die Goldsuche, die in diesem frühen Frühjahr zaghaft wieder in Gang kam — anscheinend ließ sich alles mit Abenden und Nächten in der Kneipe verbinden.
Da gab es June, die einen Teil ihrer Tage mit Sarah verbrachte. Sie in ihren Jeep lud und mit ihr herumfuhr. Da gab es Jacob und Adam, die sie auf ihre Veranda einluden, wo die untergehende Sonne nachmittags schon die Bergwand hinterm Haus verfärbte. Da gab es Adam allein. Wenn Jacob abends loszog, um in der Kneipe mehr Bier zu holen, weil sie keins mehr hatten, wenn Muddy dringend rausmusste, wenn die Zigaretten aus waren. Einfach nur Adam. Und da gab es Mary, jeden Morgen und jeden Abend. Ihr schien es zu gefallen, dass sie Gesellschaft hatte. Da gab es das Bild in ihrem Zimmer, nach dem Sarah spätabends einmal gefragt hatte und über das Mary sagte, es sei eine lange Geschichte, für ein anderes Mal.
Eine knappe Woche später merkte Sarah, dass es Zeit wurde, nach Hause zu fahren. Ihr Kopf war leer und klar, obwohl sie der Entscheidung keinen Schritt nähergekommen war. Noch ein Abend, ein Auftritt von Adam und Jacob, und dann lag die Rückfahrt vor ihr. Die Fahrt, ihr Haus und ihre Arbeit.
An diesem Abend trank und tanzte Sarah mit, für sich allein und eins mit allen anderen. Mit zurückgelegtem Kopf, geschlossenen Augen, schwingenden Haaren. Der Rhythmus wurde immer aufpeitschender und das Stampfen von Jacobs und Adams Füßen im Takt der Musik brachte die Bühne zum Beben. Die vor dem Podium wogende Menge übernahm den Rhythmus, sie klatschte und stampfte.
Der Abend versank im Nebel. Adam spielte wie ein Besessener. Mitten in einem Mundharmonikasolo sah Sarah ihn aufspringen. Unter lauten Anfeuerungsrufen trat er näher und näher an den Rand der Bühne. Sarah klatschte und schrie mit den anderen. Er spielte weiter, ließ sich von der Bühne gleiten, kam zu ihr. Ohne Mikrofon spielte er mit derselben Leidenschaft weiter, seine Füße stampften immer noch im Takt. Sarahs Bewegungen folgten seiner Musik. Sie tanzten dicht zusammen, während die Menge weiter laut im Takt mitklatschte. Mitten in der sich aufbauenden Melodie unterbrach Adam sein Spiel und steckte die Mundharmonika in die Hosentasche. Er ließ sie nicht aus den Augen, stampfte immer noch im Takt. Jacob spielte weiter, lauter als zuvor, ein Teil der tanzenden Menge übernahm singend den Mundharmonikapart.
Sarah hörte Jacob von der Bühne herunterrufen.