aWay. Nic Jordan

aWay - Nic Jordan


Скачать книгу

      Auf dem Weg zurück in meinen Schuhkarton in Camden holte ich dennoch mein Handy raus und fing an zu recherchieren. ›Man muss in China die Ein- und Ausreise bestätigen, wenn man sich um ein Visum bewirbt, und dazu muss man eine Unterkunft nachweisen für die Zeit, die man dort verbringt.‹ Mein Herz legte in diesem Moment einen Zahn zu, denn ich hatte keine Ahnung, wie das zu meiner Freiheits-Tramper-Theorie passen sollte. Würde ich schon bei den ersten Vorbereitungen scheitern? Und ich hatte gerade erst ein Land recherchiert. Was waren wohl die Bestimmungen in Russland und Südostasien?

      Die nächsten Tage setzte ich mich dann doch noch genügend mit all den Themen auseinander. Die wenigsten würden von mir behaupten, besonders deutsch zu sein, aber was organisatorische Sachen angeht oder Dinge wie Reiseversicherungen, war ich dann doch sehr effizient und wollte immer auf Nummer sicher gehen. Und das ist bei Deutschen wohl eine Art Klischeeeigenschaft.

      Langsam wuselte ich mich Schritt für Schritt durch zahlreiche Webseiten und Foren. Mit dem Ziel, die perfekte Route zu finden und alles Bürokratische vorab zu klären, durchforstete ich das World Wide Web länger als je zuvor und fühlte mich ein wenig stolz. Richtig organisiert kam ich mir vor! Es war das erste Mal, dass ich so viel Zeit aufwendete, um mich auf eine Reise vorzubereiten. Man muss dazu sagen, dass ich mich tatsächlich nur um den bürokratischen Teil kümmerte. Ich verschwendete keinerlei Zeit damit, ›die schönsten Strände in Thailand‹ oder ›Was isst man in China?‹ zu googlen.

      Mein Kopf glühte und meine Augen brannten, nachdem ich stundenlang klein gedruckte, mir entgegenleuchtende Informationen auf trist aussehenden Einwanderungsseiten studiert hatte. Das Ergebnis? Bis auf mein Visum für Australien konnte ich mich vorerst um nichts Weiteres kümmern. Das Visum für Russland musste ich in München beantragen, wo ich selbstverständlich seit meiner Geburt bei Mama gemeldet war. Und das für China durfte ich erst einen Monat vor Anreise beantragen, was meine ganze Planung ein wenig riskant werden ließ. Was würde ich tun, wenn mir aus irgendeinem Grund das Visum nicht genehmigt werden würde? Ich müsste es in einer Vertretung in Finnland beantragen und hoffen, dass ich all die nötigen Papiere bis dahin zusammenhätte. Bislang hatte ich außer einem Reisedokument keine einzige der Informationen, die China von mir haben wollte.

      Gestresst rieb ich mir übers Gesicht mit beiden, vom Tippen angespannten Händen. Obwohl ich theoretisch bis auf ein paar Infos, die ich in mein rosafarbenes Notitzheft geschmiert hatte, nicht sehr viel weitergekommen war, fühlte ich mich bereit und hatte keine wirklichen Zweifel daran, dass ich das rechtzeitig schaffen würde. Allgemein hatte ich nicht das Gefühl, dass an diesem total irren Plan irgendetwas schiefgehen könnte. Jetzt musste ich wohl nur die sechs Monate abwarten, bis es endlich losging.

      Die Geburt einer Vagabundin

      MÜNCHEN

      Mit 14 Jahren fing mein kleines – nennen wir es mal: – Ausreißerleben an. Damals fuhr ich per Anhalter quer durch Deutschland. Meine erste Hürde war es, meine Reiseideen bei meiner Mutter durchzuboxen. Als ich das geschafft hatte und sie mich unfreiwillig nach Berlin trampen ließ, blieb es nicht bei diesem einen Mal. Es entwickelte sich zu einer Art Sucht, immer und immer wieder aufzubrechen.

      Oft hatte ich meine besten Freundinnen dabei. Wenn wir nicht den Daumen rausstreckten, versteckten wir uns in Zügen auf den Toiletten, manchmal auch stundenlang, um ohne Geld neue Orte besuchen zu können. Mir war zu der Zeit noch nicht bewusst, wie wertvoll und lehrreich diese Erfahrungen für meine bevorstehende Reise sein würden.

      Der normale Alltag und das routinierte Leben meiner Altersgenossen hatten mich nie interessiert. Ständig hatte ich den Drang, was anders zu machen und aus der Reihe zu tanzen. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass ich ohnehin ein Außenseiter war: Keiner in der Schule hatte mich überhaupt erst in die Reihe hineingelassen, also blieb mir nichts anderes übrig, als aus ihr herauszutanzen. Immer wollte ich etwas Größeres, Bunteres, und vor allem wollte ich weiter weg.

      Einfach nur Studium, Job, Haus und Kinder reizten mich nicht, kamen als Zukunftsplan nie infrage. Ich wollte immer nach den Sternen greifen und Menschen kennenlernen, die anders waren. Wir versuchten immer wieder, uns im Teenageralter auf After-Show-Partys zu schleichen, um wenigstens einen kleinen Einblick in die Welt der Künstler zu ergattern und unseren Blick für einen Moment vom ›langweiligen‹ Leben der Durchschnittsmenschen abzuwenden.

      Mit den Jahren wurden unsere Tramper-Aktionen zur Norm, ebenso wie der Besuch der Backstage-Veranstaltungen. Doch die Welt, in die wir hier eintauchten, war sehr oberflächlich und half mir nur kurzzeitig, aus dem Alltag auszubrechen. Es dauerte nicht lange, bis ich den spirituellen Pfad entdeckte und mich Champagnerfeten mit Prominenten nicht mehr ansprachen. Stattdessen beschloss ich, in mich hineinzuschauen, und tauschte Partys gegen Meditation ein.

      Mein neuer Lebensabschnitt fing durch meinen Bruder Didi an. Er war der typische Einzelgänger, würde ich sagen. Kung-Fu und Meditation waren neben alten Filmen seine Leidenschaften. Er hatte sich irgendwann selbst Chinesisch beigebracht, weil es sein Traum war, irgendwann in China in einem Tempel zu leben. Wie fast alle Geschwister zankten wir uns in der Schulzeit viel und wussten wenig von den Welten, in denen wir hinter unseren Zimmertüren verschwanden. Je älter ich wurde, desto mehr wollte ich aber die Verbindung zu Didi herstellen. Den Spitznamen trug er in unserer Familie, seit ich denken konnte, aber bis heute weiß ich nicht wirklich, wieso, denn sein eigentlicher Name war Lech.

      Er lebte sein Leben hinter verschlossenen Türen. Nur in seltenen Fällen erlaubte er mir oder meiner Mutter Zutritt in sein Reich. Seine vier Wände waren minimalistisch im chinesischen Stil gehalten. Zum Beispiel sägte er die Tischbeine seines Holztischs kurz, sodass er davor auf dem Boden sitzen konnte. Er tauchte abends meistens ab in die Welt alter chinesischer Schwarz-Weiß-Filme. Mit den Jahren erlaubte er mir ab und zu, an seinem Abendprogramm teilzuhaben, aber er erzählte mir nur wenig über das, was in seinem Inneren vor sich ging.

      Eines Abends kam mein Bruder nicht nach Hause. Ich machte mir Sorgen, da er in den letzten Wochen öfter über das Thema Suizid gesprochen hatte. Aus irgendeinem Grund wagte ich es nicht, näher darauf einzugehen, wenn er über solche Dinge sprach. Da sich die Freundschaft zu meinem Bruder immer fragil anfühlte, wollte ich die Dinge, die er sagte, nie hinterfragen. Die Verbindung, die wir mittlerweile hatten, war das Ergebnis eines jahrelangen Prozesses gewesen, das ich nicht mit falschen Fragen kaputtmachen wollte.

      An dem besagten Abend, als mein Bruder untypisch für ihn nicht nach Hause kam, saß ich stundenlang in meinem Zimmer und wartete auf ein … Lebenszeichen. Ich lief in meinem kleinen Zimmer auf und ab, beleuchtet vom Scheinwerferlicht des Dummmachfernsehers, und verpestete meine Lunge mit dem stinkenden Qualm einer Mentholzigarette. Immer wenn ich eine zu Ende geraucht hatte, drückte ich die Stummel in einem leeren Teelichtbehälter aus.

      Mitten in der Nacht hörte ich endlich Schritte im Treppenhaus und eilte zur Haustür. Als Didi versuchte, unbemerkt die Tür zu öffnen, erschrak er, weil ich besorgt auf der anderen Seite wartete.

      »Wo warst du?«, fragte ich ihn, hatte aber Angst vor seiner Antwort.

      »Nirgendwo. Lass mich in Ruhe!«, murmelte er, und ich musste feststellen, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war. Zudem bemerkte ich seine gekrümmte Haltung. Ich folgte ihm in sein Zimmer und sah Blut an seiner Hand.

      Zögernd fragte ich erneut: »Wo warst du? Was hast du gemacht?« Ich konnte die Panik in meiner Stimme kaum verbergen. Mein Versuch, cool zu bleiben, ging nach hinten los, und mein Bruder sah mich nur leicht genervt an.

      Er sagte leidend: »Ich war draußen. Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert.«

      Ich werde seine Wortwahl nie vergessen: Ich habe mich umgebracht, aber es hat nicht funktioniert. Dieser Moment brannte sich für immer tief in mein Gedächtnis, wie das Brandzeichen eines Zuchttieres, und veränderte mein Leben.

      Zuerst sah ich ihn regungslos an und versuchte, ihn nicht merken zu lassen, wie sehr mich seine Worte trafen. Wir hatten nie eine emotionale Geschwisterbeziehung gehabt. Über Gefühle wurde bei uns nie gesprochen, und geweint hatten wir nur als Kinder voreinander. Irgendetwas in mir redete mir ein, dass es nicht okay


Скачать книгу