aWay. Nic Jordan

aWay - Nic Jordan


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er von den Autos, die er transportierte, hielt er sogar eine Hand vor seinen kleinen Mund, begann zu flüstern und sah sich dabei um, als hätte er eine streng geheime Mission. Ununterbrochen zog er an seinem Anzugärmel, um seine Uhr hervorschauen zu lassen; offenbar wollte er seine Mitmenschen unbedingt auf sie aufmerksam machen. Doch weder die Uhr noch die Autos konnten auch nur einen Funken Begeisterung in mir entfachen.

      Es waren die drei längsten Stunden meines Lebens. Gefühlt zählte er mir jedes Fahrzeug auf, das er in acht Jahren Berufserfahrung transportiert hatte, und zeigte mir Bilder dazu. Als ob das nicht schon genügte, zoomte er auf Einzelteile und beschrieb sie mit größter Genauigkeit. Zwischendurch erwähnte er die Namen von berühmten Personen, die er angeblich persönlich kannte, und von all den Models und Schauspielerinnen, mit denen er ausgegangen sei. Es waren so offensichtliche Lügen, dass ich nicht wusste, ob ich mich ärgern sollte, dass er mich für dumm verkaufen wollte, oder einfach drüber lachen.

      Den Höhepunkt erreichten wir, als er mir von seinem »besten Freund« erzählte, einem weltbekannten DJ. Meine Kenntnisse über House waren gewiss nicht überragend, aber diesen Namen hatte ich einfach noch nie gehört. Dennoch hörten wir uns zehn Minuten eines Techno-Live-Sets auf seinem Handy an, natürlich in voller Lautstärke und schlechter Tonqualität mitten im dining room des gut besuchten Pubs. Um uns herum saßen nur Pärchen und Familien bei Kerzenlicht, und alle Gäste schenkten uns ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit, während ich verlegen an meinem Salat kaute und mein Begleiter laut schmatzend seine BBQ-Deluxe-Fleischplatte verspeiste.

      Ich suchte nach einem Ausweg aus dieser peinlichen Situation. Doch mir fiel nichts Besseres ein, als alle viertel Stunde die Toilette aufzusuchen und auf dem Rückweg eine Extrarunde durch das Restaurant zu drehen. Natürlich blieb mein vorgetäuschter Harndrang nicht ganz unbemerkt, und so bekam ich den Rat, baldmöglichst einen Arzt aufzusuchen.

      Nach einer gefühlten Ewigkeit war es an der Zeit, sich auf die Fähre zu begeben. Die Fahrzeuge standen Schlange, um an Bord zu kommen, und ich musste feststellen, dass mein Kleintransporterfahrer gar nicht so unrecht hatte, als er die Fähre als ›Schiff‹ bezeichnete. Das Ding war riesig, wirkte heruntergekommen, und ich konnte kaum glauben, wie viele Autos hier mitfahren würden.

      Als tatsächlich all die Autos, die hier angestanden waren, auf dem – na gut – Schiff verstaut waren, setzte es sich endlich in Bewegung. Vom Heck aus sah ich, wie die Lichter der englischen Küstenstadt kleiner wurden, bis sie in der Ferne ganz verblassten. Mein Fahrer hatte sich heute wohl ins Koma geredet und war auf der Bank neben mir mit offenem Mund eingeschlafen. Und während ich England zum Abschied winkte, wehten meine Haare im kühlen Sommerwind. Ich verließ mein Zuhause über dunkles Wasser, das vom Mondschein glitzerte. Goodbye England, it was a pleasure. Dann drehte ich mich um und blickte Richtung Zukunft: Bonjour la France.

      Mein Plan? Kein Plan!

      VON CALAIS NACH BRÜSSEL

      Als das Schiff anderthalb Stunden später das neue Land erreichte, rüttelte ich die Nervensäge aus ihrem Tiefschlaf, und nur wenige Sekunden später fing sie wieder zu reden an. Ich musste unverzüglich schmunzeln und folgerte daraus, dass ich den Kleintransporterfahrer ein wenig lieb gewonnen hatte.

      Er nahm mich noch ein Stück mit und bot mir mehrmals an, mich bis nach Deutschland zu fahren, doch das kam für mich nicht infrage. Abgesehen davon, dass ich mir die Ohren abschneiden müsste, würde ich das Angebot annehmen, wollte ich auch ein wenig Zeit in Frankreich verbringen. Wie einen geheimen Umschlag reichte er mir auf dem menschenleeren Parkplatz seine Visitenkarte und blickte im Anschluss aus dem Fenster, um sicherzugehen, dass es niemand mitbekommen hatte. Er fuhr davon, und ich fühlte mich unfassbar leicht und frei.

      Eine Zeit lang irrte ich durch die dunklen, verlassenen Straßen von Dunkerque. Die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen, waren meine Schritte auf dem unebenen Kopfsteinpflaster, das Quietschen der schaukelnden Boote und das Meeresrauschen in der Ferne. Um diese Uhrzeit konnte ich spontan keine Unterkunft für die Nacht finden, doch die Müdigkeit der letzten 24 Stunden zog sich durch meinen Körper. Am Ende der Straße sah ich ein leuchtendes Schild, das aussah, als gehörte es zu einem Hotel, und eine kleine Hoffnung kam in mir auf: Ich könnte mich doch zumindest in die Lobby setzen und da auf den Sonnenaufgang warten. Das Hotel war süß, nicht besonders edel, aber es hatte einen typisch französischen Flair. Der junge Mann an der Rezeption grüßte mich beim Reinkommen, als wäre es in dieser kleinen Hafenstadt völlig normal, mitten in der Nacht in ein Hotel zu marschieren. Nach dem anstrengenden Tag wäre ich sogar bereit gewesen, mit meinem Vagabundenleben direkt am Anfang zu mogeln und für ein Zimmer zu bezahlen. Doch das Schicksal ließ es nicht zu, dass ich einfach so mein Abenteuer gegen Komfort eintauschte, denn zu meinem Bedauern war das Hotel seit Tagen ausgebucht. Der nette Rezeptionist rief für mich sogar bei anderen Hotels an, um nach einem freien Bett zu fragen, doch leider überall ohne Erfolg. ›Clément‹ stand auf seinem Namensschild, und auch wenn ich ihn nie beim Namen nannte, fand ich es schön, ihn zu wissen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, schlug Clément vor, dass ich es mir auf dem Sofa in der Lobby bequem machen könnte, zumindest bis die Sonne aufging. Er setzte sich ein wenig zu mir, schaltete den Fernseher an und gab mir eine Tasse Kaffee aufs Haus. Als ich ihm erzählte, welches Abenteuer hinter mir lag und was noch bevorstand, war er völlig aus dem Häuschen. Durch seinen französischen Akzent rieselte eine Extraportion Charme auf jedes Wort, und während er arbeitete, sah er hin und wieder mit einem zufriedenen Lächeln zu mir rüber. Da das Hotel keine komplette Absteige war, wollte ich es mir nicht erlauben, auf dem Sofa einzuschlafen, und zwang meinen Körper, stundenlang wach zu bleiben. Was für eine Qual, denn das Sofa war weich und flauschig, der Raum war warm und die Stimme der Nachrichtensprecherin außergewöhnlich meditativ.

      Gegen 5:45 Uhr begannen die Vorbereitungen für das Frühstücksbüfett. Mein Magen heulte vor Hunger. Der kleine Salat vom Vorabend hatte lange nicht ausgereicht, und der Geruch von warmen Brötchen und Croissants füllte den Raum. Clément schien nicht entgangen zu sein, dass ich auf das Büfett starrte. Er schlich mit einem leeren Teller zu mir rüber, zeigte auf das Büfett und zwinkerte mir zu. Ich konnte mein Glück kaum fassen und sprang sofort auf. Während vor dem Fenster langsam ein neuer Tag seine Fühler in die romantische Nacht streckte, aß ich genüsslich mein erstes französisches Frühstück. Die Straßen wurden heller und luden mich ein, hinauszugehen. Die Müdigkeit verlor für einen Moment ihre Macht über mich. Dankend verabschiedete ich mich von Clément, wieder ohne ihn beim Namen zu nennen.

      Sobald ich an der frischen Luft war, kam ich durch meine schlaflose Nacht in einen tranceartigen Zustand, der alles fern von Realität erscheinen ließ. Die kleinen französischen Straßen wurden mit pinkem und orangem Licht überflutet. Jeder Millimeter wurde in Farben getränkt, die mein Auge noch nie zuvor bewusst gesehen hatte. Selbst der Asphalt reflektierte die Farbenmelodie wie ein matter Spiegel. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich träumte oder was davon real war. Tränen sammelten sich grundlos in meinen Augen und beschlugen meine Sicht. Emotionen überrannten mich, und mein Herz jubelte. Ich glaube, das war der offizielle Moment, in dem ich realisierte, dass ich aufgebrochen war.

      Wie am Vorabend befand sich niemand auf den Straßen, weder Menschen noch Autos störten das Gemälde einer perfekten Welt, durch das ich lief. Alles befand sich im Stillstand, bis auf den Fluss, an dem ich entlanglief und der mich zum Meer begleitete. Die ganzen kleinen Hausboote, in Pastellfarben bemalt, wippten langsam hin und her. Wie in Zeitlupe tanzten sie alle nebeneinander auf dem glitzernden Wasser und brachten selbst die Möwen dazu, sich elegant dem Takt der schleichenden Wellen anzupassen. Jedes Gebäude, jedes stehende Fahrzeug war mit diesen göttlichen Farben bemalt.

      Die Müdigkeit hatte eine komische Wirkung auf meine Psyche. Ich fing an mich zu fragen, ob es denn möglich war, dass ich tot sei? Im Himmel? Oder in einer Parallelwelt gefangen? Vielleicht lag ich auch eigentlich noch in London in meinem Bett und träumte das alles nur … Wie konnte es sein, dass ich in den letzten Stunden bis auf Clément keine Menschenseele gesehen hatte? Der Gedanke war zu schwer, mein Kopf zu müde.

      Endlich kam ich an dem verlassenen Strand an. Es kostete mich einiges an Kraft, die pudrigen Sanddünen zu überwinden, um einen Blick auf das Meer werfen


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