aWay. Nic Jordan
habe keine Angst. Ich will nur, dass es endlich richtig losgeht. Ich will weg hier und spüren, dass ich lebe, weit weg von jeglicher Art von Sicherheit.«
Marcel lächelte mit einer Seite des Munds, aber sein restliches Gesicht konnte nicht verbergen, dass meine Antwort seine Sorgen nicht zerstreute. »Ich würde mir in die Hose scheißen«, sagte er nervös lachend. Für einen kurzen Moment ließ er die Stille den Raum füllen, und dann fügte er hinzu: »Ich bin stolz auf dich!«
Am nächsten Morgen war es so weit. Meine Kleidung hatte ich frisch gewaschen und in Vakuumtüten in meinem Backpack verstaut. Ein letztes Mal für eine lange Zeit stand ich in dieser Wohnung. Hier roch es für mich nach Vertrautheit, hier war bis jetzt immer zu Hause gewesen.
Noch einmal forderte Marcel mich auf, mich jeden Tag zu melden. Noch einmal bat er mich, vorsichtig zu sein. Noch einmal checkte er, ob ich denn auch wirklich alles Nötige dabeihatte. Noch einmal nahm er mich in den Arm, und ich konnte mich kurz in seinem Nacken vergraben, um seine Wärme zu spüren. Ich versuchte, mir seinen Geruch einzuprägen, den Moment aufzusaugen, damit wenigstens dieser für immer mit mir reiste.
Wir verabschiedeten uns, diesmal auf unbestimmte Zeit. Ich fühlte mich, als sollte ich trauriger sein. Als sollte ich vielleicht die eine oder andere Träne vergießen. Aber noch nie hatte sich etwas in meinem Leben so richtig angefühlt. Noch nie war ich mir meines Weges so sicher gewesen. Ich befand mich in einem Zustand, in dem Traurigkeit nicht möglich war. Natürlich lag etwas Sentimentales in der Luft, und auch das Gefühl, bald völlig allein zu sein, weckte eine gewisse Unruhe in mir. Aber ich wollte mich nicht auf Zweifel einlassen, dafür war es auch definitiv zu spät. Ich blickte nicht mehr zurück und machte mir auch keine Sorgen über die Zukunft – ich war einfach nur im Moment, und der Moment war mein Ticket in die Freiheit.
In den paar Tagen in München hatte ich es noch geschafft, meinen gesamten Freundeskreis zu sehen. Keiner wollte mich ohne eine Umarmung ziehen lassen. Roxy, Mandy und Kathi gehörten in München, neben Kau, zu meinem inneren Kreis. Die meisten meiner Freunde freuten sich für mich, da sie wussten, dass mich nichts glücklicher machte, als mein Vagabundinnenherz mit Abenteuern zu füttern.
Mittags, kurz vor meinem Aufbruch, lud ich noch meine Mutter zum Essen ein. Es blieb mir nicht mehr viel Familie übrig, seit mein Vater uns, als ich klein war, verlassen und mein Bruder sich vor ein paar Jahren das Leben genommen hatte. Die Familie, die ich noch hatte, bestand aus meiner Mutter und Marcel. Sie waren das Einzige, was in meinem Leben konstant war und mir Halt gab.
Meiner Mum hatte ich viel zu verdanken, denn sie hat mich immer unterstützt und nie gezweifelt, dass ich meinen Weg finde. Als ich 14 Jahre alt war, stand ich mit gepacktem Rucksack vor der Haustür auf dem Weg nach draußen. Es war unter der Woche, und theoretisch hätte ich am nächsten Tag in die Schule gemusst. Meine Mutter sah mich verwirrt an und fragte, wo ich hinwolle. Ich sagte selbstbewusst: »Ich fahr mit den Mädels für ein paar Tage per Anhalter nach Berlin.« Meine Mutter erwiderte: »Ähm, nein, das tust du nicht!« Ich schnaufte und wandte mich ihr zu. »Schau mal, Mama, wir haben hier nun zwei Möglichkeiten: Entweder du verbietest es mir, und ich bleibe heute da, werde aber früher oder später mal bei einer Freundin übernachten und es trotzdem tun, ohne dass du es weißt. Oder du lässt mich jetzt gehen, ich werde dich jede Stunde anrufen, mein Versäumtes von der Schule nachholen und nie Geheimnisse vor dir haben.« Stille ließ den Moment unendlich erscheinen, in dem meine Mutter ratlos nach einer Antwort grübelte und letztendlich sagte: »Okay, ich möchte, dass du mich jede Stunde anrufst, und schick mir die Kennzeichen aller Autos, in die du einsteigst, per SMS. Pass auf dich auf.« Ich umarmte sie, triumphierend über diesen kleinen Sieg, und erzählte ihr von diesem Moment an absolut alles, was in meinem Leben vor sich ging. Bis zum heutigen Tag hat sich das nicht geändert. Sie war nicht nur meine Mutter, sondern auch meine Freundin, und diese Verbindung konnte nichts mehr brechen.
Wir saßen uns gegenüber am Tisch bei unserem Lieblingsinder, führten Gespräche übers Leben und über die Welt. Wir philosophierten über meine Reise und all die Orte, die ich sehen würde. Es war ein Mittagessen wie viele andere, auch wenn sich von heute an alles ändern würde. Wie immer bestellten wir zu viel und versuchten mühsam, alles aufzuessen. Ich war meiner Mutter sehr dankbar, dass sie mich nicht mit Sprüchen wie »Sei vorsichtig« nervte, denn sie wusste, dass ich immer vorsichtig war. Stattdessen gab sie mir noch mit ihrem sympathischen polnischen Akzent, den ich bis heute nicht nachmachen kann, eine Motivationsrede mit auf den Weg: »Weißt du, Eltern sagen immer, sie möchten, dass ihre Kinder glücklich sind. Doch am Ende machen sie ihnen Druck wegen Schule, wegen Job, weil sie sich verkehrt anziehen und, und, und. Mir ist wirklich – Hand aufs Herz, besonders seit dein Bruder gegangen ist – nichts wichtiger, als dass du glücklich bist. Deswegen macht es mich stolz zu sehen, dass du alles tust, um das zu sein.«
Ich versprach, mich zu melden, jedenfalls so oft es ging. Mir war bewusst, dass ich an Orte kommen würde, an denen es kein Netz und keinen WLAN-Anschluss gab, aber sobald ich irgendwo genug Zeit hatte und das Internet einigermaßen funktionierte, waren sie und Marcel die ersten Menschen, bei denen ich mich rühren wollte.
Ich wartete abfahrbereit auf meine Freundin Kau. Der Plan war, dass sie mich abholte und nach einem Abstecher nach Österreich, wo wir eine Nacht verbringen wollten, am ersten Rastplatz auf dem Weg nach Prag rausließ, sodass ich von da per Anhalter weiterkonnte. Früher waren wir immer zusammen auf Reisen und unzertrennlich gewesen. Heute hatte sie eine Tochter, die zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Monate alt war. Das hinderte Kau daran, zu großen Reisen aufzubrechen. Aber wenn die Kleine ein wenig älter wäre, wollten wir alle zusammen reisen, das stand fest.
Wir spielten unsere Lieblingssongs, wie I’m Like a Bird von Nelly Furtado oder Budding Trees von Nahko Bear, dazu sangen wir laut mit und ließen alte Reisegeschichten Revue passieren. Zum Beispiel erinnerten wir uns an die Zeit, als wir gemeinsam in Brüssel lebten, in einem Apartment, das nicht größer war als ihr heutiges Badezimmer, sagte sie lachend. Unsere Nachbarn waren Junkies, und das ganze Stockwerk hatte nur ein Badezimmer und eine Küche, die sich alle teilten. Regelmäßig fanden wir benutzte Spritzen und leere Tütchen auf den Toiletten. Die Küche war so dreckig, dass sich der Boden bewegte, wenn das Licht aus war. Die Zustände dort waren ekelerregend, aber wir mussten keine Miete zahlen, also beschwerten wir uns nicht. Am Anfang des damaligen Sommers hatte ich auf einem französischen Musikfestival ein paar Jungs aus Belgien kennengelernt, und einer von ihnen hatte dieses Apartment als Studentenwohnung gemietet, doch in den Semesterferien war er bei seinen Eltern in der Heimat, und so konnten wir die Bude für uns nutzen. Wir hatten so unglaublich viele gemeinsame Erinnerungen und Geschichten, aber nach unserem kleinen Roadtrip stand diese Reise nur mir allein bevor.
Als wir uns am nächsten Tag dem tschechischen Rastplatz näherten, bemerkten wir eine riesige Baustelle, die sich kilometerweit in die Ferne zog. Den Rastplatz, von dem aus ich Abschied nehmen und lostrampen wollte, schien es nicht mehr zu geben. Der nächste war eine halbe Stunde Fahrt entfernt. Kau sah mich einen Moment lang an und fragte: »Wie weit ist Prag noch mal von hier? Ich fahr dich einfach bis dahin und fahre morgen zurück.« Einen kurzen Augenblick lang herrschte Stille, da ich sie ungläubig ansah, und dann brachen wir beide synchron und hysterisch in Gelächter aus. Kau rechtfertigte ihre Spontanität damit, dass ihre Kleine sicher bei ihrem Papa war und sie ja nicht wusste, wann sie mich wiedersehen würde. Also wollte sie noch so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen.
Ich erinnerte mich an das bisherige Motto meiner Reise, einfach mit dem Flow zu gehen, und willigte ein. Kurz klärte Kau die eine oder andere Sache am Telefon ab, bevor wir wie selbstverständlich und voller Freude gemeinsam weiterfuhren.
Einer der interessantesten Aspekte daran, per Landweg zu reisen, ist, dass man sofort merkt, wenn man die Grenze zu einem anderen Land überquert. Nehmen wir Tschechien als Beispiel: Der Boden der Autobahn ist hier wesentlich rauer und holpriger als der in Deutschland. Die Tankstellen sehen anders aus, die Snacks dort sind ungesünder, und die Menschen haben eine aggressivere Fahrweise.
Es war bereits dunkel, als wir den Stadtrand durchquerten und in die prall gefüllten Großstadtstraßen Prags eintauchten. Es war mein erstes Mal in der tschechischen Hauptstadt, zumindest seit ich mich erinnern kann. Als ich jünger war, waren meine Eltern ab und zu mit uns dorthin gereist,