aWay. Nic Jordan
Momente eingefangen sind, die in Realität meistens völlig anders waren, und durch die auch die eigene Erinnerung getrübt und verfremdet wird. Sagen wir mal so: Ich war das erste Mal bewusst und gewollt in Prag – diesmal würde ich Erinnerungen schaffen, die echt sind.
Wir parkten das Auto in einem labyrinthartigen Parkhaus im Zentrum Prags. Im Inneren des zugehörigen Shoppingcenters befand sich ein Supermarkt, in dem wir ein paar Kleinigkeiten für die Nacht kaufen wollten. Wir merkten uns genau, auf welchem Weg wir das Parkhaus verließen: Links die Fahrbahn runter und an drei Autos vorbei, schlenderten wir rechts um zwei Säulen herum, um geradeaus den gelblich leuchtenden Eingang des Ladens zu sichten. Kaus alten grauen BMW konnte man nicht mal abschließen, aber um ehrlich zu sein, war nichts drinnen, was man, würde es gestohlen, als Verlust bezeichnen könnte.
Ich liebe es, in fremden Ländern durch Supermärkte zu bummeln. So viele Dinge, die man nicht kennt, und es würde Jahre dauern, alles auszuprobieren.
»Die stehen hier voll auf Waffeln, scheint hier so ein Ding zu sein«, sagte Kau, als sie ein riesiges Regal erblickte mit – ungelogen – um die hundert verschiedenen Schokoriegelsorten. Davon war so ziemlich jede mit einer knusprigen Waffel gefüllt. Direkt daneben waren Regale voller getrockneter Früchte und Nüsse, die an einen türkischen Bazar erinnerten. Als wir etwas weiter gingen, entdeckten wir unzählige Gläser, gefüllt mit eingelegtem Gemüse aller Art.
Wir verließen den Supermarkt mit sechs trüben Gurkengläsern, einem Karton voll Schokoladenriegel, natürlich mit Waffeln als Füllung, und einer Familienpackung getrockneten Früchten. Zufrieden mit unserer Ausbeute betraten wir wieder das Labyrinth, um zu unserem hässlichen Auto zurückzukehren. Wir gingen den gleichen Weg zurück, den wir gekommen waren. Geradeaus, nach der zweiten Säule links, an drei Autos vorbei, rechts die Fahrbahn hoch und da … da, äh, sollte es doch eigentlich stehen. Verwirrt kratzten wir uns am Kopf und glotzten auf den leeren Parkplatz. Wir versuchten, den Weg nochmals zu rekonstruieren, leider ohne Erfolg.
Über unseren Köpfen entdeckten wir eine Kamera, und so beschlossen wir, einen Wachmann aufzusuchen, um unser Auto eventuell gestohlen oder zumindest vermisst zu melden. Wir gingen den ganzen Weg zurück zum Erdgeschoss, und da ich die ganze Zeit die Leckereien mit mir herumtrug, die wir im Supermarkt ergattert hatten, begannen meine Schultern langsam zu schmerzen. In einer offenen Tür stand ein kleiner Wachmann und stritt sich laut mit jemandem am Telefon. Er hatte eine selbst gedrehte Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger klemmen, die aussah, als würde sie jeden Moment in der Mitte auseinanderbrechen. Als wir uns näherten, bemerkte uns der kleine Mann, sagte etwas auf Tschechisch, was nach einem abrupten Ende des aufbrausenden Gesprächs klang, und schob sein altes Nokia in eine der Ledertaschen, die an seinem Gürtel befestigt waren. Er setze seine Mütze auf, um seine fettigen, kurz geschorenen Haare zu verdecken, und grüßte uns mit »Ahoj!«.
»Hello Sir, sorry to interrupt your phone call, but I think, we lost our car!«
Der Mann zeigte keinerlei Reaktion. Ein paar Sekunden lang starrten wir uns alle einfach nur an. Dann zog er ein letztes Mal an seiner filterlosen Zigarette, drückte sie in den überquellenden roten Plastikaschenbecher und fummelte sein Handy wieder aus dem Beutelchen. Er wählte eine Nummer, und bei jeder Zahl erklang ein lautes Piepsen. Ich verstehe nicht, wieso Menschen den Tastaturton nie ausschalten – bei einer langen SMS klingt es bestenfalls wie die Melodie, die in den Achtzigern aus einem Gameboy kam. Als am anderen Ende jemand dranging, drückte der Wachmann mir das kleine Plastikding in die Hand und drehte sich zum Schreibtisch, um sich eine weitere vorgedrehte Zigarette anzuzünden.
»Ahoj Ledi, how I can help you?«, ertönte am anderen Ende der Leitung eine heitere Stimme mit unüberhörbarem tschechischem Akzent.
Das ganze Szenario brachte mich kurz aus dem Konzept, und ich vergaß beinah, wieso wir überhaupt hier waren. Kau war keine große Hilfe und erwiderte mein Starren genauso ausdruckslos wie der kleine Wachmann.
»Äh, hi … I think we lost our car!«
Stille. »You lost your card? Which card?«
»No, I lost my car. Brumm. Brumm … You know, CAR!«
»Car?«
»Car!«
»How can you lose car?«
»Well, I don’t know … It is not where we left it.«
»You lose car …« (Tschechisches Nuscheln und Gelächter folgten.)
Ich runzelte die Stirn und sah Kau fragend an, als ob sie Teil der Unterhaltung gewesen wäre. Kau drehte sich zu dem Wachmann und gab meinen Blick an ihn weiter, woraufhin der Mann ihren Gesichtsausdruck imitierte und sich wieder zu mir wandte.
Unterdessen bat mich die Stimme am Telefon, dem Wachmann den Hörer zu reichen. Dieser hörte nun konzentriert zu und nickte immer wieder wortlos, als ob sein Gesprächspartner ihn sehen könnte, drehte sich dann zu uns und winkte uns zu sich ins Zimmer. Als wir uns seinem Schreibtisch näherten, erblickten wir Monitore auf dem Tisch, die vermutlich für die Überwachungsaufnahmen da waren, nur leider waren sie alle ausgeschaltet. Der Mann zeigte demonstrativ mit ausgestreckten Fingern und Zigarette auf einen Monitor, sagte etwas auf Tschechisch und machte eine unkontrollierte Bewegung mit seinen Händen. Ich blickte ihm in die Augen und versuchte, aus seiner Geste schlau zu werden. Dann drückte ich bei dem einen Bildschirm auf den An-Knopf, doch nichts passierte. Der kleine Wachmann fasste sich an den Kopf, zeigte noch mal auf den Bildschirm, wiederholte seine Handbewegung und gab einen genervten Ausruf von sich. Und auf einmal verstand ich. Er versuchte mir zu sagen, dass die Bildschirme alle kaputt seien. Ich rollte mit den Augen und ging rückwärts aus dem Zimmer. Der Gestank der billigen Kippen hatte sich mittlerweile in meine Klamotten und Haare gefressen.
Als wir uns gerade ratlos auf die Suche nach unserem verlorenen Auto machen wollten, hörten wir in der Ferne Schritte herbeieilen. Es war ein weiterer kleiner Wachmann, der nahezu genauso aussah wie der andere. Er kam uns mit einem Riesenlächeln und weit aufgerissenen Kulleraugen entgegen. Seine Backen waren so aufgeschwollen, dass sie glänzten, und eine ungesunde lila Färbung war kaum zu übersehen. Auf einmal standen die zwei kleinen Wachmänner vor uns und diskutierten miteinander.
Der neue Wachmann wandte sich uns endlich zu und sagte: »Ahoj … Hello … We help you finding lost car!«
Ich lächelte, und wir stiefelten zu viert durch das mittlerweile fast leere Parkhaus. Wir gingen in den Eingang des Supermarkts, um unseren Weg zu rekonstruieren. Auf einem Handyfoto zeigten wir den beiden Männern unser Auto. Sie musterten es so genau, dass ihre Köpfe aneinanderstießen, als sie sich dem Handybildschirm näherten.
Der Englisch sprechende Kollege sagte beeindruckt: »Wow, nice car.«
Ich war mir nicht sicher, ob er das ironisch meinte oder ob er eine Brille brauchte. Kaus grauer BMW sah nicht so aus, als könne er noch fahren, geschweige denn den TÜV-Test bestehen. So langsam waren wir mit der Geduld am Ende, und Hunger hatten wir auch. Also beschlossen wir, uns durch die Waffel-Schokoriegel zu futtern. Die Wachmänner machten auch mit und kommentierten jeden Bissen mit einem »Mhh, very good«.
Wir gingen hoch in das fragliche Stockwerk und gingen denselben Weg wie vorher auch. Geradeaus, nach der zweiten Säule links, an drei Autos vorbei, rechts die Fahrbahn hoch und da … Da stand unser Auto wieder?! Wie konnte das sein? Kau und ich sahen uns fragend an. Hatte sich jemand unser Auto ausgeborgt und es einfach wieder zurückgestellt? Der eine Wachmann sah irritiert unseren hässlichen BMW an, während der andere triumphierend drauf zeigte und so tat, als wäre es sein Verdienst gewesen, dass wir ihn wiedergefunden hatten. Beim Blick nach oben bemerkte ich, dass sich keine Kamera mehr darüber befand. Konnte es sein, dass es dasselbe Parkhaus zweimal gab, oder waren wir verrückt geworden?
Wir fragten den englischsprachigen Wachmann, und dieser beantwortete die Frage so, als hätten wir es die ganze Zeit wissen müssen: »Yes, ledi, two parking.«
Wir hatten also eine Stunde vergeudet, weil wir geglaubt hatten, unser Auto wäre gestohlen,