Das Geheimnis der Reformatorin. Bettina Lausen
dreißig Schritte von ihnen entfernt lagen, regten sich nicht.
Mathes band die Pferde los und nahm Jonata das Kind ab, dass sie aufsitzen konnte. Dann gab er ihr Clara zurück. In dem Moment hörte Jonata es erneut knacken. Ihr Herz machte einen Satz in die Tiefe. Diesmal war es kein Reh, sondern ein breitschultriger Mann, der auf Mathes zustürmte.
»Hinter dir!«, zischte Jonata und hielt instinktiv die Luft an.
Mathes drehte sich um und schlug dem Angreifer mit einem gekonnten Schlag unters Kinn. Der Mann ging zu Boden und stöhnte. Mathes versetzte dem Mann noch einen Schlag und beeilte sich, aufzusitzen. »Los! Weg hier!«, flüsterte er.
Beängstigend langsam entfernten sie sich vom Lager. Sie konnten nicht schnell reiten, dafür war es noch zu dunkel. Jonata hoffte, dass ihre Stute erkennen würde, wohin sie die Hufe setzte. Gehetzte Blicke über die Schulter. Folgte ihnen auch niemand? Sie erwartete jeden Moment Geschrei. Nichts! Mathes’ Faust hatte Wirkung gezeigt.
Sie gelangten zu einem Weg, nun drang das Mondlicht durch die Baumwipfel. Der Pfad war gut passierbar, und sie konnten die Pferde zu leichtem Trab antreiben. Jonatas Herz beruhigte sich langsam.
»Haben wir es geschafft?«, fragte sie, als der Morgen dämmerte.
»Ich denke schon. Allerdings habe ich keine Ahnung, wo wir sind.«
Sie verließen den Wald und blickten auf endlose Felder, die in der Morgensonne golden erstrahlten. Dunst umwaberte die Gräser. Es versprach ein schöner Tag zu werden – der erste Tag im Leben von Clara. Jonata betrachtete das verknautschte Gesicht, die niedliche Stupsnase, die zarten Lippen und die winzigen Augenbrauen. Wie friedlich sie aussah. Aber sie wurde unruhig, drehte den Kopf und öffnete den Mund, suchte stumm die Brust ihrer Mutter. Das arme Kind. Sie mussten bald etwas zu trinken für das Kleine finden.
Mathes sprang vom Pferd und kontrollierte die Satteltaschen. »Es scheint nichts zu fehlen. Auch meine Bücher und Schriften sind noch da.«
»Und dein Geld?«
»Den Beutel haben sie mir abgenommen«, brummte er.
»Dafür habe ich meinen noch. Mit den paar Münzen werden wir beide sicherlich nach Köln kommen.«
Mathes saß wieder auf. »Hauptsache, wir sind diesen Schnapphähnen entkommen.«
Sie ritten weiter. Hinter einem Hügel entdeckten sie eine Weide mit zwei Kühen und einer Ziege. Kurze Zeit später kam hinter einer Baumgruppe das Bauernhaus in Sicht. Mathes sah sie fragend an.
»Einen Versuch ist es wert.« Jonata ritt voran.
Als sie auf dem Hof vom Pferd stieg, ruderte Clara mit den Armen und verzog das Gesicht. Gleich würde sie zu schreien beginnen. Schnellen Schrittes lief Jonata zur Tür und klopfte. Eine gedrungene Frau mit eng beieinanderliegenden Augen öffnete ihr. Sie trug keine Haube, sondern hatte die grau melierten Haare am Hinterkopf zusammengebunden. »Was wollt ihr?«, fragte sie schroff.
»Wir brauchen Hilfe. Wir …« Clara gab den ersten Laut von sich, holte Luft und schrie aus vollem Halse.
»Wir sind kein Gasthaus.«
»Nein, du verstehst nicht! Wir wurden von einer Gruppe Wegelagerer überfallen, die dort in dem Wald lebt.« Jonata zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und wippte, um das Neugeborene zu beruhigen.
Die Bauersfrau verschränkte die Arme. »Ich verstehe sehr gut. Wie oft stehen Ausgeraubte vor meiner Tür und betteln um ein Mahl und ein Nachtlager.«
»An Münzen fehlt es uns nicht.« Auch wenn Jonatas Magen knurrte und sie sich nach einer Schale Brei verzehrte, fuhr sie fort: »Es geht uns nur um das Kind. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben. Jemand muss ihm Milch geben.«
»Sehe ich aus wie eine Amme?«
Jonata schloss die Augen und schluckte die scharfe Bemerkung herunter. »Gibt es niemanden in deinem Haus, der einen Säugling nährt?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein. Und jetzt verschwindet!«
»Bitte sag uns wenigstens, wohin wir reiten müssen, um zur nächsten Stadt zu gelangen«, kam ihr Mathes zu Hilfe.
»Nach Westen.« Die Frau zeigte in die Richtung. Das würde sie zumindest Köln näher bringen.
»Wie lange wird es dauern?«, fragte Mathes.
»Eine Tagesreise.« Dann knallte sie die Tür zu.
Clara schrie immer noch. Jonata sah die Kleine an. Die Zornesfalten auf der Stirn, die immer röter werdende Gesichtsfarbe. »So lange kann sie nicht warten.« Ihr Herz blutete bei diesem Anblick.
»Was willst du tun?«, fragte Mathes.
Jonata sah sich um. Auf dem Hof gab es einen Stall, eine Scheune und eine Hütte, die sich an einen Ahorn zu lehnen schien. Sie griff nach dem Halfter und führte ihre Stute dorthin.
»Jonata?«, fragte Mathes. »Wir sollten uns doch beeilen.«
»Lass uns eine Rast machen.« Sie dachte einen kurzen Moment an ihren Vater. So würden sie es nie rechtzeitig zur Beerdigung schaffen, aber sie konnte das Neugeborene nicht verhungern lassen.
»Ich verstehe nicht«, rief Mathes ihr hinterher.
Die Tür der Hütte war nicht verschlossen. Darin befanden sich einige Fässer und ein paar Strohballen. »Pass auf die Pferde auf. Ich werde etwas versuchen«, sagte Jonata und stieg ab.
Mathes schaute sie irritiert an, brachte jedoch keinen weiteren Einwand vor.
Jonata schloss die Tür hinter sich und setzte sich mit Clara auf das Stroh, lehnte sich an einen Ballen. »Schhh …« Sie strich der Kleinen über den Kopf. »Jetzt werden wir sehen, ob ich noch Milch habe.« Seit fünf Monaten stillte sie Ells nicht mehr, doch gab es nicht Frauen, bei denen die Milch Jahre später noch einmal in Gang kam? Das zumindest hatte sie beim Gespräch ihrer Wehmutter mit einer Wittenberger Bürgerin mitbekommen. Sie legte Clara an ihre Brust.
***
Die ersten Trauergäste betraten die Abteikirche. Enderlin erkannte die Mägde aus dem Hause seines Vaters sowie seinen Halbbruder Kuntz. Jonata war nicht bei ihnen, das wäre auch zu schön gewesen. Einige Brauer saßen in den Reihen, doch die meisten Kirchenbänke blieben leer. Nicht mal Ekarius, der Bruder seines Vaters, war gekommen. Wie ernüchternd!
Zur Bestattung seines Bruders Lucas vor vier Jahren war die Abteikirche voll gewesen. Warum verweigerten die Kölner seinem Vater die letzte Ehre? Er war ermordet worden. Welche Umstände hatten dazu geführt? Das hatte ihm der Prior nicht erzählt. Auch wenn Jakob Hochstraten ihm die Andachtsmesse anvertraut hatte, hatte er ihm nicht gestattet, das Kloster zu verlassen, um mit den Mägden zu reden. Nach der Beerdigung würde er die Gelegenheit nutzen und Elisabeth ansprechen.
Die Familie Magnus war eine der wenigen Brauerfamilien, die den Anstand hatten, der Beisetzung beizuwohnen – obwohl Sebalt Magnus allen Grund hätte, dieser Trauerfeier fernzubleiben. Jonata hatte die Dreistigkeit besessen, ihn als Ehemann abzuweisen – dieses undankbare Frauenzimmer. Und Vater hatte es ihr durchgehen lassen.
Viel schlimmer war jedoch, dass seine Schwester sich mit diesem Ketzer Simon von Werden eingelassen hatte. Damit hatte sie ihr eigenes Seelenheil verwirkt und Enderlins Leben ruiniert. Die Möglichkeit, einmal Prior zu werden, war nun so weit entfernt wie die Geburtsstätte des Heilands. Enderlin ballte die Hände zu Fäusten. Wenigstens einen Trost gab es: Jonata würde für ihre schweren Sünden lange im Fegefeuer büßen.
Seine Ordensbrüder schlossen die Pforte der Kirche. Enderlin trat vor den Altar und begann die Totenmesse. Bruder Ottin spielte das erste Lied auf der Orgel. Enderlin betrachtete den Sarg. In den vergangenen Tagen hatte er seinen Vater in die Gebete eingeschlossen. Und im nächsten Monat würden die Stundengebete seinem Vater gewidmet sein. Wahrhaft ein Segen, wenn das ganze Kloster für das Seelenheil eines Menschen betete. So würde sein Vater zu seiner Läuterung sicherlich nur kurz im Fegefeuer ausharren müssen.
Während des