Das Geheimnis der Reformatorin. Bettina Lausen

Das Geheimnis der Reformatorin - Bettina Lausen


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würde.

      Marlein sah sie an. »Sie soll Clara heißen, nach meiner lieben Mutter.« Sie streckte ihr den Säugling entgegen. »Bitte bring sie an einen sicheren Ort und kümmere dich um sie. Sie soll nicht in dieser Hölle leben müssen.«

      Die Gewissheit, dass sie sterben würde, stand Marlein ins Gesicht geschrieben. Jonatas Augen brannten, Tränen flossen über ihre Wangen. Was hatte diese Frau für ein Leid erfahren? Und nun, wo sie endlich wieder Glück zu empfinden schien, holte sie der Tod. Und das Kind würde ohne Mutter aufwachsen. Jonata schloss die Lider. Bitte, HERR, hilf mir und lass Marlein leben.

      Als sie die Augen öffnete, hatte Marlein die ihren geschlossen. Sie kniete sich neben die Frau, die sie besser zu kennen glaubte als viele Bürger Wittenbergs. »Marlein«, flüsterte sie. Die junge Mutter rührte sich nicht. Jonata fühlte mit zittrigen Fingern am Hals nach dem Pulsieren. Nichts. Da war nur noch eine leere Hülle. Jonatas Lippen bebten. Was sollte nur aus diesem Kind werden?

      Sie nahm das Schultertuch von Marlein und wickelte Clara darin ein. Zusätzlich schlug sie die Decke um das Bündel. Sie warf einen letzten Blick auf die junge Mutter, da fiel ihr die Gewandschließe an Marleins Mantel ins Auge. Sie legte das Kind ab, schnitt geschwind die Metallringe aus dem Stoff und steckte die Schließe in ihren Beutel. Wenigstens etwas sollte Clara von ihrer Mutter bekommen.

      Jonata nahm das Kind, öffnete vorsichtig die Tür und spähte hinaus. Alles war ruhig. Das Lagerfeuer war zu einem Glühen heruntergebrannt. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie in der Hütte zugebracht hatte, aber es war immer noch dunkel. Jetzt musste sie schnell handeln. Sie wollte Marleins letzten Wunsch erfüllen und das Kind von hier fortbringen. Wer wusste, was diese Wegelagerer mit dem Mädchen anstellen würden. Wahrscheinlich würde es keine drei Tage überleben, wenn sie es nicht gar direkt töteten.

      Leise schlich Jonata durch die Dunkelheit und versuchte sich an den Weg zu Mathes zu erinnern. Als sie ein Käuzchen rufen hörte, duckte sie sich hinter einen Busch. Die Bäume schälten sich noch finsterer aus der Dunkelheit. Um sie herum sah alles gleich aus. Nicht auszudenken, wenn sie in die falsche Richtung lief.

      Als sie geduckt aus ihrem Versteck hervorkam, stolperte Jonata über eine Wurzel, konnte sich jedoch fangen. Hoffentlich begann der Säugling nicht zu weinen, doch noch schlief Clara friedlich in ihren Armen. Dann sah sie einen Schemen an einem Baum. Das musste Mathes sein. Geschwind lief sie zu ihm. Er hatte den Kopf nach vorne geneigt und rührte sich nicht. Ihr stockte der Atem. Hatte man ihn umgebracht? Sie berührte ihn an der Schulter, sofort schreckte er auf. Erleichterung durchflutete sie.

      »Ich bin’s, Jonata«, flüsterte sie.

      »Was ist passiert?«

      Sie zückte das Messer und durchtrennte Mathes’ Fesseln. »Eine Frau hat ein Kind zur Welt gebracht und ist bei der Geburt gestorben.«

      »Du willst das Neugeborene mitnehmen?«, fragte Mathes erstaunt und rieb sich die Handgelenke.

      »Ich kann es nicht seinem Schicksal überlassen.«

      »Wie um Himmels willen willst du dich um einen Säugling kümmern?« Mathes stand auf.

      »Ich muss eine Amme finden.«

      »Das wird Zeit kosten. Wahrscheinlich werden wir es dann nicht mehr rechtzeitig zur Beerdigung deines Vaters schaffen.«

      Jonata sah auf das Neugeborene. In der Dunkelheit konnte sie die Gesichtszüge von Clara nur erahnen. Eine Woge der Liebe überkam sie. Kümmert Euch um die Lebenden und nicht um die Toten, hörte sie Luthers Worte in ihrem Kopf. Und wenn Gott es wollte, würden sie dennoch rechtzeitig in Köln eintreffen. Sie hörte ein Knacken hinter sich und erstarrte.

      ***

      »Zum Zwanzigsten. Auch wenn einige Leute mich nun einen Ketzer schelten – denn eine solche Wahrheit ist sehr schädlich für den Kasten –, so achte ich doch solches Geplärre nicht hoch, zumal das niemand tut als einige Finsterhirne, die ihre Nase nie in die Bibel gesteckt haben …«

      Figen lehnte sich an die Wand und legte die Schrift neben sich. Wie mutig Luther war! Sie wollte auch so standhaft für ihre Überzeugungen eintreten. Sie war sich sicher: »Ein Sermon von Ablass und Gnade« war der richtige Text für den Unterricht. Ein Kribbeln zog durch ihre Glieder und hielt sie seit Stunden vom Schlafen ab. Sie hatte die Schrift mehrmals gelesen. Als Erstes würde sie den zukünftigen Zöglingen den Text vorlesen, damit sie sich mit dem Inhalt vertraut machten. Anschließend würde sie Zeile für Zeile die Buchstaben durchgehen. Figen malte sich in Gedanken aus, wie die Mädchen ihr gespannt zuhörten.

      Die Talgkerze war fast heruntergebrannt und hatte ihren üblen Geruch in der Kammer verteilt. Würde sie mehr Geld besitzen, könnte sie sich eine Wachskerze leisten. Figen trat zum Fenster und öffnete die Läden, um die frische Nachtluft hereinzulassen. Der blasse Schein des Mondes drang durch ein Meer aus Wolkenfetzen. Schnell veränderten sie ihre Struktur, bildeten neuartige Formen, gaben den Blick auf die halb volle Scheibe frei, verschluckten sie wieder. Figen spürte den Wind der Veränderungen auf ihren Wangen, hörte Mädchenlachen, sah leuchtende Augen, sah Buchstaben umherwirbeln und sich auf Papier zu Worten formen.

      Ein Knirschen, als ob jemand über Steine lief, durchbrach die Stille. Sie beugte sich über den Fenstersims und lugte nach unten, aber sie konnte nichts erkennen. Eine Fledermaus flog in den Apfelbaum und verschwand über den Dächern. Hatte Figen sich verhört? Wahrscheinlich war sie nur müde und hatte zu lange über der Schrift gesessen.

      Sie spürte einen Druck im Unterleib, warf den Mantel über und schlich nach unten. Im Haus war alles ruhig. Sie ging in die Küche und öffnete die Hintertür zum Hof. Vorsichtig spähte sie hinaus. Nichts regte sich. Sie lief zur Latrine und erleichterte sich. Dann ertönten Schritte.

      Unwillkürlich hielt sie die Luft an. Da war jemand! Eilig ließ sie die Röcke fallen und trat hinaus. Im Mondschein erkannte sie Margrets Mantel. Ihre Herrin verschwand in der Brauerei, hatte Figen anscheinend nicht bemerkt. Wo war sie gewesen, und warum hatte sie die Totenwache unterbrochen? Die Latrine hatte sie jedenfalls nicht aufgesucht.

      Figen ging zur Brauerei und zog an der Tür. Abgeschlossen. Seltsam! Sollte sie klopfen? Nein, sie wollte Margret nicht stören. Was sollte sie auch sagen? Es stand ihr nicht zu, Fragen zu stellen. Margret war ihr keine Rechenschaft schuldig.

      Figen ging in ihre Kammer und legte sich auf ihre Bettstatt. Ihre Gedanken kreisten. Ging Margret auch zu geheimen Versammlungen, oder hatte sie bloß ihren Nachttopf ausgeleert? Doch auch dann hätte sie zur Latrine kommen müssen. Und wieso hatte sie die Brauerei abgeschlossen? Das ergab alles keinen Sinn. Figen war zu müde, um klar zu denken, und bald fielen ihr die Augen zu.

      ***

      Erneutes Knacken im Unterholz. Mathes zog Jonata hinter einen Baum. Ihr Herz galoppierte. Hatten sie zu laut gesprochen und waren aufgeflogen? Im linken Arm hielt sie Clara, in der anderen Hand das Messer. Bereit, sich damit zu verteidigen. Sie wagte einen Blick am Baumstamm vorbei, versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie sah eine Bewegung, krampfte ihre Finger fest um den Griff. Der Schemen schälte sich aus der Schwärze der Nacht und huschte davon.

      »Ein Reh«, flüsterte Mathes.

      Erleichtert lehnte Jonata den Kopf an den Stamm und sah nach oben. Sie dankte dem HERRN in Gedanken. Zwischen den Baumwipfeln sah man am schwarzen Himmel Sterne funkeln. Wie viel Zeit hatten sie noch, bis der Tag anbrach?

      »Wo sind die Pferde?«

      »In der Richtung, glaube ich.« Mathes stapfte los.

      Jonata folgte ihm. Sie steuerten geradewegs auf das Lager zu. Vielleicht sollten sie lieber zu Fuß fliehen. Aber weit würden sie nicht kommen, die Wegelagerer würden sie leicht einholen. Außerdem wollte sie ihre Stute nicht zurücklassen.

      Ein röchelndes Geräusch durchbrach die Nacht. Jemand schnarchte. Der Verursacher lag am Feuer mit zwei weiteren Gestalten. Jonata blickte sich um und hielt nach den Pferden Ausschau. Sie kamen an der Hütte vorbei, in der Marlein lag. Jonata schluckte und blieb kurz stehen. Mathes tippte ihr auf die Schulter und zeigte nach rechts. Dort waren sieben Pferde an Pfählen


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