Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib

Im Schatten der Flügel - Hansjörg Schertenleib


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wohnt mein Bruder Ty seit ein paar Wochen bei mir. Vielleicht isst er mit uns. Mal sehen.«

      »Er ist raus aus der Klinik? Für immer?«

      »Wenn ich das wüsste. Vorerst vorläufig, denk ich.«

      »Und wie geht es ihm?«

      »Besser. Aber er ist immer noch ein Ex-Soldat. Wenn du weißt, was ich damit sagen will.«

      »Arbeitet er?«

      »Er hat den Fußboden im Café abgezogen und neu gestrichen. Nächste Woche will er die Toilette auf Vordermann bringen.«

      »Klingt gut.«

      Sie verabredeten sich für 19 Uhr. Corinna warf ihr Handy aufs Sofa und schreckte Teaser auf, die zu Boden sprang und ihr so lange mauzend um die Beine strich, bis sie ihr in der Küche eine Portion Trockenfutter in ihren Napf schüttete. Sie machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich auf das Deck in die Dunkelheit und sah Wolkenschiffen zu, die meerwärts über den Abendhimmel glitten, bis ihr kalt wurde.

      Sie badete ausgiebig, brennende Kerzen auf dem Fenstersims des Bades, trocknete sich die Haare mit dem Fön, ohne in den Spiegel zu sehen, und legte sich früh schlafen, die Katze auf Michaels früherer Seite neben sich. Das eingeschaltete Handy legte sie auf das Nachttischchen, um die SMS nicht zu verpassen, die Jake ihr ziemlich sicher schrieb, wenn er wieder zu Hause war. Der Wind rüttelte an den Regenrinnen, Bäume rauschten, irgendwo in der Nachbarschaft klapperte eine Tür oder ein Fenster. Der Himmel war jetzt ein finsteres wolkenloses Gewölbe voller Sterne.

      Den nächsten Tag vertrödelte sie mit unnötigen Hausarbeiten, räumte Schubladen aus und wieder ein, hängte Sommerkleider in den Schrank im Keller, trug Winterkleider ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett und hielt sich lange damit auf, Stücke für den Thrift Shop in Rockland oder den Secondhandladen in Camden auszusortieren.

      Sie verzichtete aufs Mittagessen, aß bloß einen Apfel, putzte Küchen- und Wohnzimmerfenster. Später löschte sie alte Mails auf dem Laptop und besuchte Webseiten für Vermisste, obwohl sie sich vorgenommen hatte, es auf keinen Fall zu tun: 18-Wheel-Angels. Hope Network. Bring Joe Home. Sie klickte sich durch Galerien verschwundener Mädchen und Jungen, verlor sich in der Betrachtung unsicherer Teenagergesichter, las Botschaften verzweifelter Eltern, Verwandter und Freunde, las Aufrufe, Beschwörungen, Vermutungen und Hinweise. Etliche Jugendliche wurden seit Jahren vermisst, andere seit wenigen Tagen. Sie studierte Fotos wertloser Halsketten und Ringe, klickte sich durch Aufnahmen von Haarclips, Armbanduhren, Tops mit Spaghettiträgern, Sweatshirts mit Aufschriften, Schuhen, Unterwäsche. Sie bekam Kopfschmerzen, hatte ein unangenehmes Sirren im Kopf, und doch konnte sie sich nicht vom Bildschirm losreißen. In Begleitung eines männlichen Erwachsenen gesehen. Im Wald hinter dem BurgerKing verscharrt. Verbrannt am Rand der Interstate 95. In einer Gefriertruhe. Ehemalige Top-Leichtathletin. In Plastikfolie verpackt. Verschnürt wie ein Paket. In einem Teich versenkt. Enthauptet. Cheerleaderin. An eine Birke gefesselt, zerstückelt. Als ihr schlecht wurde, gelang es ihr, sich von den Seiten zu lösen, auszuloggen und den Laptop zuzuklappen. Sie duschte heiß und lange, hörte Paolo Contes Aguaplano, um sich abzulenken, und rauchte auf dem Deck im eiskalten Niesel zwei Zigaretten hintereinander.

      Es war kühl im Haus, aber statt sich wärmer anzuziehen, drehte sie den Thermostat höher. Am späten Nachmittag erhielt sie eine SMS von Jake; es sei spät geworden gestern, sehr spät, er habe lange geschlafen wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Wartete sie eine halbe Stunde mit ihrer Antwort, weil sie enttäuscht war, dass er sich nicht früher gemeldet hatte? War sie etwa tatsächlich eifersüchtig? Mit wem hatte Jake sich getroffen? Teaser hockte auf Michaels Musiksessel und beobachtete misstrauisch jede ihrer Bewegungen, als traue sie ihr nicht.

      Gegen halb sechs fuhr sie los, obwohl sie so viel zu früh ankommen würde; sie hielt es nicht länger aus in ihrem Haus und wollte in Warren im Auto warten, um nicht vor 19 Uhr an Betsys Tür zu klingeln.

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