Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib
niemand. Die vom Morgenregen gewaschene Luft roch nach Salz, feuchter Erde und Fichten. Herbstlicht fiel gefiltert durch die Stämme der Bäume und legte Streifen auf die Straße.
Vor ein paar Tagen hatte sie Michaels T-Shirt, das sie lange als Pyjama getragen hatte, ohne nachzudenken in einen Abfallsack gestopft, um es endlich zu entsorgen. Aber dann hatte sie den Sack in letzter Sekunde, gerade als sich die hydraulische Presse in Bewegung setzte, wieder aus dem Container der Müllsammelstelle in South Thomaston gezerrt und das T-Shirt herausgesucht. Sie hatte es gewaschen, gebügelt und in die unterste Schublade ihrer Kleiderkommode gelegt. Zwar konnte sie sich nicht vorstellen, es je wieder zu tragen, aber sie brachte es auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen.
Sie ging hinters Haus, um nach ihrem Garten zu sehen, und schaffte es zwar, sich vom Rand des Steinbruches fernzuhalten, achtete aber doch auf verdächtige Geräusche. War die Untersuchung des Tatortes bereits abgeschlossen, das Zelt der Forensiker abgebaut? Das Gras musste dieses Jahr noch mindestens einmal geschnitten werden, aber sie hatte keine Lust darauf und ging ins Haus zurück.
Die Vorstellung, den Rest des Nachmittages sowie den Abend alleine zu verbringen, machte ihr Angst, und sie beschloss, Maggie zu besuchen. Sie nahm das Gefäß mit dem Rest des Rindsgulaschs aus dem Tiefkühlfach, das sie letzte Woche für Jake gekocht hatte: Sie würde es als Geschenk mitbringen. Sie schlüpfte in eine Fleecejacke und zog sich eine Baseballkappe der Red Sox über, die ihr Sohn Thomas ihr zum Scherz aus Boston mitgebracht hatte, weil er wusste, dass sie die Regeln des Spieles nicht verstand, obwohl Michael sie ihr wieder und wieder erklärt hatte.
Wie sie es aus der Schweiz gewohnt war, ging sie am Rand der linken Fahrspur der Island Road; zwischen den Bäumen war es etwas wärmer, sie hörte das Krachen von Ästen, die vom Wind gegeneinandergeworfen wurden. Am Rand der Fahrbahn lagen ein zerfetztes Reifenstück, später eine zerknüllte Bierdose und die Kartonverpackung eines Hamburgers, noch später das blutige Fellbündel eines überfahrenen Tieres, unmöglich zu bestimmen. Das erste Auto überholte sie erst, als sie die Bufflehead Road schon beinahe erreicht hatte, an der Maggie wohnte: Der Pick-up gehörte einem Lobsterman, der als Drughead bekannt war. Er hupte und tippte, da sie nicht darauf reagierte, auf die Bremse, fuhr dann aber doch weiter, allerdings in wilden Schlangenlinien, sobald er auf der Brücke war. Etwas flog aus dem Fahrerfenster übers Geländer und klatschte ins Meer.
Sie bog auf die Bufflehead Road und fiel in leichten Laufschritt; gewisse Lobsterfischer verstanden keinen Spaß, wenn sie sich zu wenig beachtet fühlten, drehten um und verwickelten einen in unangenehme Gespräche. Der Vorplatz des Hauses mit dem besten Blick auf die Baum Bay war mit Unkraut überwachsen, im Carport stapelten sich Umzugskartons. War das Haus schon wieder verkauft worden? Nebelschwaden trieben übers Wasser, vom Wind in die Bucht gedrückt, von Rackliff Island war nur die Linie der Baumwipfel zu sehen. Die Straße lag still vor ihr, und sie ging jetzt wieder langsamer. Die Plastiktüte schnitt ihr in die Hand, das Gulasch war schwer. Ab und zu hörte sie ein Auto über die Brücke fahren; das Geräusch der Reifen auf dem gerillten Asphalt klang wie eine Spielzeugtrommel aus Blech, die jemand schnell oder langsam schlug, je nach Tempo des Autos.
Maggie saß auf der Veranda ihres hellgrün gestrichenen Hauses; als sie Corinna sah, stand sie auf und winkte, kam ihr aber nicht entgegen. Die Hühner im Drahtverhau, an dem sie vorbeiging, stoben auseinander, das Dach des Toyota Corolla vor dem Schuppen war mit Pfotenabdrücken übersät. In der Wiese lag ein zusammengerollter grüner Gartenschlauch. Corinna blieb vor dem Deck stehen und schwenkte die Tüte mit dem Gulasch hin und her.
»Ich hab dir was zum Futtern mitgebracht.«
»Gutes Mädchen!«
»Du musst jetzt für zwei essen.«
»Mach ich, glaub mir, mach ich. Eher für drei.«
Maggie sah müde aus, ihre roten ungewaschenen Haare waren strähnig.
»Morgens komm ich mir vor, als erwache ich aus einer Narkose. Groggy und völlig erledigt. Komm, setz dich.«
Corinna stieg über die Holztreppe aufs Deck, nahm Maggie in den Arm und setzte sich auf einen der zwei Gartenstühle. Der Boden des Decks war frisch gestrichen, und sie hatte die unangenehme Vorstellung, die Sohlen ihrer Schuhe lösten sich mit leisem Schmatzen.
»Die Müdigkeit gibt sich, glaub mir. Trinkst du genug?«
»Mehr als genug!«
»Und mit der Raucherei hast du aufgehört?«
»Ja!«
»Ganz?«
»Ja, Frau Polizistin! Ganz! Und du?«
»Ich bin nicht schwanger, Maggie. Ich darf rauchen.«
Auf der mit Gaffer-Tape zusammengeflickten Haube des Gasgrills lag ein aufgeschlagenes Buch neben einer Tasse, aus der es schwach dampfte.
»Seit wann kannst du lesen?«
»Ich schau mir nur die Bildchen an. Wie geht es Jake?«
»Bestens. Wie macht sich dein Ray?«
»Schlecht. Er taugt nicht fürs Leben hinter Gittern.«
»Das tut keiner. Wann kommt er noch mal raus?«
»In drei Monaten. Wenn er keinen Scheiß baut.«
»Du bist im siebten Monat, ja?«
Maggie nickte und ließ sich vorsichtig auf den anderen Stuhl sinken, den Bauch mit beiden Händen stützend.
»Dann verpasst er die Geburt von Janis.«
»So ist es.«
»Hast du ihm den Namen jetzt verraten?«
»Einem Kerl, der die Geburt seiner ersten Tochter verpasst, weil er Mist gebaut hat? Spinnst du? Kaffee?«
Sie nickte, half Maggie auf die Beine und folgte ihr ins Haus, obschon sie lieber draußen geblieben wäre; die Fliegengittertür girrte und knallte ihr in den Rücken, als sie zufiel. In der dämmrigen Küche war es warm, die Heizung wahrscheinlich schon eingeschaltet. Maggie nahm zwei Tassen aus dem Schrank, füllte sie mit Kaffee aus der Filtermaschine und stellte sie auf die Frühstückstheke.
»Meine Mutter hat mich Kürbis genannt, bis ich etwa zwölf war. Hattest du auch einen Übernamen?«
»Chnuschti«, sagte Corinna und setzte sich auf einen Barhocker.
»Und das bedeutet?«
»Schwierig zu übersetzen. Komischer Kauz. Komplizierter Mensch. So ähnlich. Hast du Milch?«
Maggie stand auf, nahm eine Plastikflasche Milch aus dem Kühlschrank, trat ans Fenster und gähnte. Die Brotbüchse auf der Ablage stand offen, aber Corinna konnte nicht sehen, ob sie voll war. Das Chillum daneben gehörte hoffentlich Ray, nicht Maggie.
»Mir ist weniger oft übel, dafür schlaf ich schlechter. Viel schlechter. Ist das normal?«
»War bei mir genauso. Meine Füße waren so geschwollen, ich musste orthopädische Schuhe tragen.«
»Sexy!«
»Fand Michael auch. Er hat mir gleich vier Paar gekauft.«
»Ich komm mir vor wie ein verstopfter Walfisch!«
Maggie zog die Gardine auf und sah ins Freie; ein Spaltbreit Licht fiel in die Küche, reichte aber nicht bis zur Theke. An der Scheibe klebte ein Thermometer an einem Saugnapf, dessen Spitze im Licht leuchtete.
»Arbeitest du noch bei Betsy im Café?«
»Sie hat nur noch Freitag und Samstag geöffnet. Der Sommer ist vorbei. Im Mai fang ich wieder bei ihr an.«
»Hast du vom Mord auf der Insel gehört?«
»Ich hab sogar den Schuss gehört, Maggie.«
»Er hieß Rick Cole, sechsunddreißig, Vater von zwei Kindern.«
»Woher weißt du das?«
»Kam eben im Radio. Hat bei Norwood