Im Schatten der Flügel. Hansjörg Schertenleib
dem Steuer sitzen und achtete angestrengt darauf, ob der Lärm aus dem Haus hier weniger gut zu hören war. Während sie lauschte, ertastete sie eine einzelne Eichel in der Tasche ihres Parkas, die in ihrem Becher steckte, und erinnerte sich an den Satz ihres Vaters, den er jedes Jahr zum Besten gegeben hatte: »Jede Eichel passt nur in ihren eigenen Becher, in keinen anderen, stellt euch vor, Mädels!«
Was wohl aus ihrer Schwester Roxanne geworden war? Als sie vor neun Jahren das letzte Mal in einem staubigen Kaff in New Mexico ein paar Tage zusammen verbrachten, hatten sie sich nur in den Haaren gelegen und festgestellt, dass sie sich nichts zu sagen hatten und sich eigentlich nicht mochten. Roxanne hatte in einem Striplokal an der Bar gearbeitet und jede Nacht einen anderen Mann in ihre Wohnung abgeschleppt, in der die Klimaanlage kaum für Abkühlung sorgte, abgekämpfte zynische Kerle, die sie mit misstrauischen Blicken musterten.
Sollte sie das Fenster nach unten drehen, um den Lärmpegel zu prüfen? Sie nahm die Eichel aus der Parkatasche, musste sie aber dicht vors Gesicht halten, um sie sich genau anzusehen, weil die Lesebrille auf dem Esstisch ihres Campers lag und sie zu erschöpft war, sie zu holen. Wie sie nicht anders erwartet hatte, war das Haus ihres Sohnes schmutzig und in schlechtem Zustand. Auch um den Garten hatte er sich offenbar lange nicht gekümmert: Das Gras war an mehreren Stellen von offenen Feuerstellen verbrannt und ansonsten ungemäht, die Hecken hatte er bestimmt noch nie zurechtgeschnitten. In den Büschen, die den hinteren Teil seines Landstückes begrenzten, hing Abfall, das Dachgestänge der Hollywoodschaukel war gebrochen, das Stoffdach hing schief über der Sitzfläche und war wie ein Fangnetz mit Blättern umstehender Bäume gefüllt.
Seit sie in Vermont Himbeeren gepflückt hatte, taten ihr die Kniegelenke und Unterarme weh, und sie kam nur mit Mühe aus dem hydraulischen Fahrersessel hoch. Im Wohnbereich öffnete sie den Kühlschrank, aber es war keine einzige Flasche Budweiser mehr da. Sie würde morgen früh für einen Großeinkauf zu Walmart fahren und danach in einem der vielen Lokale in Rockland einen Cappuccino trinken. Auch das Frostfutter für ihre Königspython Slash ging zur Neige; sie musste dringend Nachschub im Internet bestellen. Es war aufwendig gewesen, das große Terrarium zwischen Küchenkombination und Sitznische in die Wand einpassen zu lassen; sie hatte das sechsjährige Schlangenweibchen, mittlerweile war es beinah zwei Meter lang und annähernd drei Kilogramm schwer, vor fünf Jahren bei einem Reptilienhändler in Texas gekauft, den Ford Chevrolet El Monte besaß sie seit dreieinhalb Jahren.
Seit die Schlange ausgewachsen war, war sie ihr manchmal unheimlich, und sie war froh, schlief sie im Alkoven über der Fahrerkabine, weit weg vom Terrarium, das sie ab und zu zusätzlich mit einem Tuch verhängte, um die Python nicht sehen zu müssen.
Sie war hungrig, aber zu träge, um zu kochen, kämpfte sich aus ihrem hydraulischen Fahrersitz, riss eine Familienpackung Chips auf, stellte Mac and Cheese in die Mikrowelle und öffnete den Weißwein, den sie bei einer Party ihres Sohnes hatte mitgehen lassen. Ihr Fernseher hatte keinen Empfang, und sie ging ihre DVD-Sammlung durch, obwohl sie die meisten Filme schon so oft gesehen hatte, dass sie viele Dialoge auswendig mitsprechen konnte. Sie entschied sich für Out of The Furnace mit ihrem Lieblingsschauspieler Woody Harrelson, schaltete die neue Lavalampe an, drehte alle anderen Lichter aus und machte es sich mit den Käsemakkaroni, den Chips und dem Wein auf dem Sofa bequem und startete den Film.
5 Ein Detective mit Gipsfuß
Detective Robinson hatte einen Tick, der Corinna Holder bei seinem ersten Besuch nicht aufgefallen war: Vor jeder Frage zuckte er mit den Augen, ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen und sah dann für einen Moment abwesend in die Ferne. Damals hatte er sie befragt, weil sie Norman Dunbars Leiche gefunden hatte, heute wollte er wissen, ob sie den Schuss gehört hatte und was ihr aufgefallen war. Während er zuhörte, zeichnete er mit dem Zeigefinger Spiralen auf das rechte Bein seiner beigen Stoffhose. Seine Nase war so markant, dass sie einen Schatten auf seine Kinnpartie warf.
»Das Motorrad fuhr Richtung Norden. Richtig?«
»Wie gesagt, ja.«
»Wieso vermuten Sie, dass der Schuss von einem Gewehr und nicht von einer Pistole abgegeben worden ist?«
Seine blaue Krawatte schillerte, als bestehe sie aus lauter Schuppen wie ein Fisch, sein weißes Hemd war ungebügelt.
»Weil ich mich mit Schusswaffen auskenne.«
»Als ehemalige Polizistin, meinen Sie?«
»Ehemalige Kriminalpolizistin, Detective.«
»Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen?«
Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ungefragt Kaffee nach. Beim letzten Besuch hatte er ihn gerühmt, heute ging er nicht darauf ein. Sie hatte sich vom Rand des Steinbruchs ferngehalten und war auch nicht zum Hafen hinuntergefahren, wo man das Areal von Norwood Lobster ungehindert einsehen konnte. Sie wollte sich so gut als möglich aus der Sache heraushalten.
»Sportunfall?«, fragte sie und zeigte auf seinen eingegipsten rechten Fuß.
»Nicht der Rede wert«, sagte er, machte eine abschätzige Handbewegung und nickte, als wolle er sich selbst bestätigen.
Durfte sie nachhaken? War er von der Leiter gefallen? Hatte er sich den Fuß bei einem Einsatz gebrochen? Sein Blick war verhuscht und leicht verschwommen, wahrscheinlich von Schmerztabletten, die er einnahm. Sie warf einen Blick zum Bücherregal; hinter den Romanen von Albert Camus und Carlos Castaneda hatte sie früher das Xanax versteckt. Sie hatte die Bücher noch immer nicht gelesen, obwohl sie sich geschworen hatte, es zu tun, sollte sie je von der Sucht loskommen.
»Sammeln Sie Holz?«, fragte er und zeigte auf den Ast von Jakes Wiese, der auf dem Couchtischchen lag.
»Unter anderem«, sagte sie knapp und versuchte, das belustigte Grinsen auf seinem Gesicht zu ignorieren.
»Gesehen haben Sie niemanden?«
»Nein. Wie geht es dem Mann?«
»Er ist heute Nacht gestorben.«
»Wird jetzt die Maine State Police eingeschaltet?«
Er trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse auf den Unterteller zurück und ließ sich seufzend zurücksinken. Der Rücken seiner rechten Hand war rot, als habe er sich vor Kurzem gekratzt.
»Warum nicht gleich das FBI?«
Seine Stimme hatte jetzt einen pikierten, beinahe verärgerten Unterton, er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt.
»Ich kenne mich nicht aus mit den amerikanischen Gepflogenheiten.«
»Wir sind hier in Maine.«
»Nicht in Amerika?«
»Ach, ihr Europäer«, sagte er spöttisch und stand auf.
Dass Robinson ihr tatrelevante Hinweise verriet, etwa welche Handys in der Nähe des Tatortes eingeloggt gewesen waren oder ob eine Patrone gefunden worden war, hatte sie nicht erwartet, doch sein unfreundliches Verhalten erstaunte sie.
»Ich bin übrigens Detective Sergeant. Nicht bloß Detective.«
Er legte die Hand ans Revers seines Jacketts, zupfte daran, als sei es ihm zu eng, und reichte ihr die Hand. Sein Atem roch nach Kaffee und nach Erdbeeren, wahrscheinlich hatte er Kaugummi gekaut, bevor er an ihre Tür geklopft hatte. Wo hatte er ihn entsorgt?
»Das wusste ich nicht, Verzeihung, Detective Sergeant.«
Bevor sie Robinson zu seinem zivilen Einsatzwagen begleitete, warf sie einen Blick auf die Küchenuhr: 15:15. In letzter Zeit sah sie auffällig oft genau dann auf Uhren, wenn sich die Ziffern deckten. 11:11. 14:14. 22:22. Zufall? Oder hatte es eine Bedeutung?
Der böige Wind, der das Regenwetter vertrieben hatte, war unangenehm kühl und brachte eine erste Vorahnung des Winters mit sich. Detective Sergeant Robinson nahm das Blaulicht vom Armaturenbrett, legte es auf den Beifahrersitz und setzte seinen Grand Cherokee schwungvoll auf die Rockledge Road zurück. Bevor er losfuhr, nickte er ihr mit ernster Miene zu, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zu nicken. Die untere Hälfte des Heckfensters