Lotte mischt mit. Klaus Heimann

Lotte mischt mit - Klaus Heimann


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sie trotzig heraus.

      »Du weißt, was das bedeutet?«, fragte der Stasi-Arsch.

      Sie bejahte.

      »Du kannst es dir gerne ein paar Tage überlegen.« Der Typ schickte Robert einen intensiven Blick auf die andere Tischseite. Dieser Blick entlarvte das miese Spiel endgültig.

      Sie wurde hinausgeschickt und die beiden Männer blieben alleine zurück. Sollte sie an der Tür lauschen? Nein, so tief würde sie nicht sinken. Energisch reckte sie das Kinn und begab sich auf den Heimweg.

      Sie blieb auch auf zweifache Nachfrage von Robert standhaft. Er bekam zu verstehen, wie sie über die Angelegenheit dachte.

      »Du hast bei mir verschissen. Sieh zu, wie du aus dem Schlamassel, in dem du offensichtlich steckst, herausfindest. Wem bist du bei denen eigentlich etwas schuldig?«

      Robert kniff und trollte sich.

      Wie sehr sie selbst ins System verstrickt war, verstand sie, als ausgerechnet ihr eigener Vater ins selbe Horn stieß.

      »Du musst an die Republik glauben. Der Sozialismus ist gut für die Menschen. Wenn du unserem Staat helfen kannst, darfst du dich dem nicht verweigern.«

      Jedem dieser Versuche des Vaters, in sie zu dringen, begegnete sie nur mit schmallippigem Schweigen. Doch irgendwann platzte ihr der Kragen.

      »Bist du auch so einer?«

      Gespieltes Unverständnis. »Was für einer?«

      »So einer wie Robert, der für das Regime spitzelt. So einer wie diese Stasimumie, die Leute dazu aufwiegelt, Freunde auszuspionieren. Bist du so einer? Ein Spitzel?«

      Sie fing sich eine schallende Ohrfeige ein. Danach ließ er sie in Ruhe.

      Im Anschluss an diese Szene wurde das Schweigen zu Hause unerträglich. Nicht nur der Vater, auch die Mutter strafte sie, indem sie durch ihre Tochter hindurchblickte. Alle schienen verstrickt in diesen Sumpf. Sie vermisste jemanden, dem sie unbedingtes Vertrauen schenken konnte, ein Wesen, unverdorben und frei von kranker Ideologie. Jemanden, der ihr bedingungslos vertraute und dem sie ihre Liebe schenken konnte.

      Sie vermisste ihr Kind.

      Rein sportlich blieb sie auf der Höhe. Sie wurde sogar immer besser und überflügelte bald die beste Schützin ihrer Altersgruppe. Als in den Ferien ein Förderprogramm in der Hauptstadt ausgelobt wurde, schickte man jedoch nicht sie, sondern die Zweitbeste hin.

      Sie stellte ihre Trainerin zur Rede: »Was bezweckst du damit?«

      »Mir sind die Hände gebunden. Ich spreche nur Empfehlungen aus. Die Entscheidungen werden anderswo getroffen«, antwortete die Frau verlegen.

      »Ich bin die Beste! Das weißt du genau.«

      »Du triffst am genauesten. Die Beste bist du nach Ansicht der Vereinsleitung nicht.«

      »Worauf kommt es denn bitteschön beim Schießen an, wenn nicht auf das Treffen?«

      Der Gesichtsausdruck der Trainerin zeigte ihr, dass sie selbst peinlich berührt war von der Antwort, die sie ihr geben musste. »Auf Disziplin und Gehorsam.«

      Natürlich! Das wieder!

      »Ah, jetzt verstehe ich.«

      Der Gesichtsausdruck der Frau wurde weich.

      »Hör mir zu. Ich kann nicht so handeln, wie ich es gerne würde. Wenn die Sprache auf dich kommt, beiße ich auf Granit. Du wirst selbst am genauesten wissen, warum das so ist. Ich hätte jedenfalls dich geschickt.« Damit ließ sie die Trainerin stehen.

      Sie knabberte sehr an diesem Vorfall. Am Abend zog sie sich ohne Abendbrot in ihr Zimmer zurück und heulte.

      Doch sie war eine starke junge Frau. Ihre Verzweiflung währte nicht lange. Sie benötigte nur diesen einen Abend, um einen Schlussstrich zu ziehen. Am Folgetag beendete sie ihre Karriere als Sportschützin.

      Das Regime verzieh ihr das Wegwerfen ihres Talents nicht. Ihre Akte – wenn es so eine gab – schien eine Markierung zu tragen. Einen roten Punkt. Ein Minus. Wie immer sie solche Akten kennzeichneten. Leute stigmatisierten.

      Die ganzen nächsten Jahre über war sie gezwungen, gegen Widerstände zu kämpfen, wo andere leicht hindurchspazierten. Nur mit Mühe gelang es ihr nach dem Schulabschluss, einen Studienplatz zu ergattern. Sie wählte Chemie, weil das Fach als schwierig galt und deshalb von ihren Mitschülern gemieden wurde.

      Immerhin gab ihr das die Möglichkeit, der Enge des Elternhauses zu entfliehen. Sie zog zu einer Freundin in Halle und schlief die ersten beiden Semester auf deren Wohnzimmercouch. Ein eigenes Zuhause war ihr verwehrt worden.

      Ein Schießeisen nahm sie nie mehr in die Hand. Sie hatte abgeschlossen mit diesem Sport, ja, verachtete ihn mittlerweile. Waffen waren für sie zum Sinnbild des Gefängnisses geworden, in das unbequeme Geister eingesperrt wurden. Sie litt unter dem ständigen Gefühl, bespitzelt zu werden. Das empfand jedoch nur sie so. Ihre Freundin winkte ab, wenn sie das Gespräch auf die Stasi und ihre Spione lenkte.

      »Das wird maßlos übertrieben«, belehrte sie ihre Mitbewohnerin gerne.

      Sie sah es der Freundin nach. Ihr eigenes Schicksal repräsentierte nicht zwangsläufig das, was Otto Normalbürger in dieser DDR begegnete. Wer sich systemkonform und unauffällig verhielt, der entging den allgegenwärtigen Augen des Spitzelapparates. Ein Schuss Glaube an die heile Welt verstellte den meisten Zeitgenossen ohnehin den Blick dafür.

      Sie lenkte sich durch ihr Studium ab, arbeitete hart und wurde eine Musterstudentin. Immerhin gelang ihr der drittbeste Abschluss ihres Jahrgangs. Trotzdem dauerte es lange, bis ihr ein Arbeitsplatz angeboten wurde. In Bitterfeld. Wieder ein Ortswechsel.

      Gleich am ersten Tag wurde sie von einem Mitarbeiter der Objektdienststelle des Werkes ermahnt, sich an die Regeln zu halten. Welche, das erwähnte er nicht.

      »Mir liegen Auskünfte bezüglich Ihrer Person vor, dass Sie es in jungen Jahren an Engagement für unsere Republik haben vermissen lassen. Hier in Bitterfeld erhalten Sie eine neue Chance, sich zu bewähren. Ich habe Sie im Blick!«

      Würde es nie ein Ende haben mit diesen Nachstellungen? Wann würden der rote Punkt oder das Minus von ihrer Akte endlich getilgt?

      Immer häufiger träumte sie in den Nächten von einem Mädchen, das bei ihr schlief. Es besaß große, grüne Augen und lockiges, blondes Haar. Vielleicht vier, fünf Jahre alt. Sie hatte ihm eine Puppe geschenkt, die in den Armen des Kindes ruhte, während das Mädchen in ihren Armen schlief.

      Regelmäßig wachte sie von diesem Traum auf. Schweißüberströmt.

      Ihr eigenes Kind würde jetzt doppelt so alt sein wie dieses Mädchen. Sie wusste nicht mal, ob es ein Mädchen war. Genauso gut konnte es ein Junge sein mit Rotznase und Segelohren. Ganz gleich. Sie spürte die Wunde in ihrem Leben klaffen. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

      Ihrer Arbeit im Chemiewerk ging sie gewissenhaft und korrekt nach. Sie äußerte sich niemandem gegenüber zu politischen Themen und gab über sich selbst nur das Notwendigste preis. Es schien ihr besser so.

      Von Männern hielt sie sich fern. Immer, wenn sie Gefallen an einem Kollegen fand, stiegen die Erinnerungen an Robert und an ihren Vater in ihr hoch. Gleich darauf die Ermahnungen des Kerls von der Objektdienststelle. Was, wenn ein Mann es nicht ehrlich mit ihr meinte und nur ein weiterer Baustein des Beobachtungsrings um sie war? Diese Enttäuschung wollte sie unbedingt vermeiden!

      Eine kleine Genugtuung verspürte sie, als sich die DDR 1984 dem Olympiaboykott anschloss. Ihr Jugendtraum, für ihr Heimatland an den Olympischen Spielen teilzunehmen, wäre spätestens jetzt geplatzt. Jedwedes Training für diese Reise wäre umsonst gewesen. Kein Siegertreppchen, kein olympisches Metall für das ach so geliebte Vaterland. Sie feixte in sich hinein. Leid taten ihr nur die Athleten, die kein Forum als Gegenleistung für ihren immensen Einsatz erhalten würden.

      In Bitterfeld lebte sie ein einsames, abgeschottetes Leben. Die Jahre schlichen dahin, ohne dass sich etwas daran


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